Illustration: Franziska Kuo
Illustration: Franziska Kuo

Alois, der Kraxenträger

Zur Schwammerlzeit geht Alois oft in aller Frühe in den Wald. Er kennt die Stellen, wo die Steinpilze wachsen. Jedes Mal, wenn sein Körbchen gesteckt voll ist und er beim Nachhauseweg aus dem Wald kommt, dreht er sich kurz vor dem Feuerwehrhaus noch einmal um und schaut auf „seinen“ Berg, den er zugleich liebt und hasst. Von hier hat man den besten Blick auf das Gipfelkreuz, und versteckt hinter Latschen blinzelt das Dach der Hütte hervor.
Vom 20. bis zum 40. Lebensjahr war Alois Kraxenträger. Zweieinhalb Zentner musste er täglich vom Tal zur Hütte tragen. Das waren zwei Touren hin und zurück. Dafür brauchte er gute zehn Stunden. Nach zwanzig Jahren, als seine Knie- und Bandscheiben schon kaputt waren, benötigte ihn der Hüttenwirt nicht mehr. Ein Muli war rentabler. So ein Tier geht nicht in Urlaub, und krank wird es auch nie. Außerdem kann man ein Muli wesentlich mehr beladen als einen Kraxenträger.
So wurde Alois ohne Vorankündigung vom einen auf den anderen Tag seinen Job los. Danach arbeitete er für einen Großbauern als Pferdeknecht.
Als nach weiteren Jahren ein Forstweg bis zur Hütte führte, hatte auch das Muli ausgedient, und der Hüttenwirt fuhr mit dem Jeep Lebensmittel, Getränke und was er sonst noch alles brauchte, bis vor die Hütte.
Von der anderen Seite des Berges baute die Nachbargemeinde eine Seilbahn bis zum Gipfel. Seit dieser Zeit tummeln sich auf dem Gipfel und der Hütte Leute, die der Alois respektlos als Halbschuhtouristen bezeichnet, die seiner Meinung nach in den Bergen nichts verloren haben. Alois hat sich geschworen, nie wieder in seinem Leben die Hütte oder den Gipfel zu betreten.
Alois ist sehr naturverbunden. Er genießt sein Rentnerdasein in vollen Zügen. Geld hat er nicht viel. Für ein Künstlerehepaar, das viel auf Tournee ist, hütet er das Ferienhaus am Berghang. Er darf dort ein kleines Mansardenzimmer bewohnen. Es sind nur wenige Quadratmeter, aber der Alois ist nicht besonders anspruchsvoll. Ihm reicht das. Für die Gartenpflege ist er auch zuständig und einmal wöchentlich muss er die Briefe und Päckchen der Herrschaften an den ständig wechselnden Aufenthaltsort nachschicken.
Alois sitzt im Garten auf einer Holzbank, die er selbst gefertigt hat, liest Zeitung und schlürft seinen geliebten Kräutertee. Die Kräuter dafür sammelt er immer selbst und trocknet die Früchte und Blätter in der Sonne im hinteren Teil des Grundstücks.
Er beobachtet die Eichhörnchen, die von Ast zu Ast springen und über Wiesen toben, oder er schaut den Vögeln zu und erfreut sich an dem Gezwitscher. Unter der Hecke nistet ein Igel, den Alois gelegentlich mit einer Schale Milch versorgt. Hin und wieder verirren sich auch Rehe und Hasen im Garten.
Manchmal sitzt Alois bis zum Nachmittag auf seiner Bank und träumt vor sich hin. Dann geht er in seine Mansarde, schaltet das Fernsehgerät ein und schaut von der Kindersendung bis zum Horrorfilm alles an.
Heute beschließt Alois, früh ins Bett zu gehen, denn am morgigen Samstag wird ihn Josef, sein einziger Sohn, vormittags besuchen.
Im Bett liegt Alois noch lange wach. Er hört die Bäume rauschen und leichten Regen auf das Dach prasseln. Morgen wird er 83 Jahre alt. Wie schnell die Zeit vergangen ist.
Sein Sohn hat ihn schon neugierig gemacht, denn er hat von einer großen Überraschung gesprochen.
„Was er wohl vorhat?“, überlegt Alois. „Vielleicht ein gemeinsames Mittagessen im Biergarten der Klosterschenke oder eine Spritztour mit dem Auto oder einen Spaziergang am Bach entlang bis zum Inselweiher?“
Gefallen könnte ihm auch ein Besuch im Bauerntheater, das seit kurzem ein neues Stück auf dem Spielplan hat, aber die Karten sind leider sehr teuer geworden... Bei diesen Gedanken schläft Alois ein.
Vom Wiehern eines Pferdes wird er am Morgen geweckt. Es regnet nicht mehr. Am Himmel hängen jedoch noch dicke Wolken, auch ist es noch sehr dunstig.
Alois frühstückt, setzt sich danach auf die Bank und wartet auf seinen Sohn, der kurz darauf mit seinem Auto wie der Teufel angerast kommt. Vielversprechend lächelt Josef und gratuliert seinem Vater zum Geburtstag. Aus seiner Jackentasche kramt er zwei Eintrittskarten hervor, hält sie seinem Vater unter die Nase und fragt: „Rate mal, was für Tickets das sind?“
Der Vater schaut auf die Billetts und sagt: „Das ist also die Überraschung! Kino oder Theater vielleicht?“ Josef schüttelt den Kopf. „Ich kann es mir denken“, sagt Alois, „ich habe in der Zeitung gelesen, dass an diesem Wochenende eine Orchideenausstellung stattfindet, die würde mich auch interessieren. Ist es das?“
Josef antwortet: „Nein, ganz, ganz kalt. Ich helfe dir ein bisschen. Es ist nicht in einem Gebäude, es ist in freier Natur.“
Alois überlegt kurz und fragt: „War ich da schon mal?“
Josef grinst spitzbübisch und nickt.
„Dann weiß ich es“, stellt Alois fest, „es ist zwar schon Jahre her, aber dann fahren wir wohl zum Freilichtmuseum?“
„Nein, ich verrate es dir jetzt, ich kann dich ja nicht ewig auf die Folter spannen. Ich möchte heute gerne mit dir mit der Sesselbahn auf deinen Berg fahren. Ich bin der Meinung, nach so langer Zeit solltest du deinen ganzen Ärger darüber endgültig vergessen.“
Erzürnt steht Alois auf und geht wortlos ins Haus, um sich eine Tasse Tee zu holen. Als er wieder herauskommt, schreit er seinen Sohn an: „Du versaust mir den ganzen Geburtstag mit deiner idiotischen Idee. Ich habe es tausendmal erwähnt, dass mich keine zehn Pferde je wieder auf diesen verfluchten Berg und in die Hütte bringen werden. Ich würde vorschlagen, du tauschst die Karten um und wir fahren zur Orchideenausstellung. Und wenn du nicht mitfahren willst, mache ich es allein.“
Enttäuscht betrachtet Josef die Tickets und sagt traurig: „Umtauschen kann man die Karten nicht, dann müssen wir sie eben verfallen lassen.“
Beide sprechen nun kein Wort mehr. Josef hofft, seinen Vater doch noch umstimmen zu können, denn wie er ihn kennt, würde er nie eine Karte verfallen lassen.
Tatsächlich fragt Alois nach einiger Zeit: „Was kostet eigentlich so eine Berg- und Talfahrt?“
Josef winkt ab und meint: „Das ist nicht so wichtig. Ich lade dich doch ein. Mach mir wenigstens eine Freude und fahre mit!“
Wieder schweigt Alois und weicht den Blicken seines Sohnes aus. Er holt sich noch eine Tasse Tee, trinkt sie aus, steht auf, streicht seinem Sohn über das Haar und sagt: „Also gut, dann fahren wir hinauf! Auf was wartest du noch?“
Alois zieht sich seine bequemen Bergschuhe an, schlüpft in seine Jacke, und Vater und Sohn fahren mit dem Auto Richtung Seilbahn.
„Ach du liebe Zeit“, stöhnt Alois, als er die vielen Autos am Parkplatz sieht, „wollen denn so viele Menschen mit der Seilbahn zum Gipfel fahren? Das ist doch schrecklich!“
„Kein Problem“, meint Josef, „du weißt doch selbst, die einen besuchen die Berghütte, die anderen besteigen den Gipfel, viele gehen den Weitwanderweg weiter und man kann auch noch den Steig durch den Wald ins Tal wählen.“
Skeptisch steht Alois in der Schlange der Wartenden und schaut öfter demonstrativ auf seine Uhr. Der Geduldigste war er noch nie, aber bald kommen auch die beiden an die Reihe.
Noch nie zuvor ist Alois mit einer Seilbahn gefahren, und noch während sie an Höhe gewinnen, hellen sich seine Gesichtszüge auf. Die Bergfahrt gefällt ihm. Er zeigt mit dem Finger auf eine verfallene Alm. „Das war einmal die Alm von der Traudl, ich war oft bei ihr. Was wohl aus ihr geworden ist?“
Alois erkennt auch den Felsen am Wildbach wieder, wo er oft eine Rast eingelegt hat. „Hier an diesem Hang gab es damals Murmeltiere, und da drüben kletterten Gemsen den Grat hoch.“ Viel zu schnell fährt die Bahn, denn schon bald sind sie am Gipfel.
„Herrlich, diese Aussicht, wie habe ich diesen Blick vermisst“, gesteht Alois, und Josef schlägt vor: „So, jetzt gehen wir zur Hütte!“
Alois wundert sich, wie groß die Hütte geworden ist: „Früher war die ganze Hütte aus Holz, jetzt sieht sie wie ein Hotel aus.“ Die Terrasse ist voller Menschen. Alois und Josef gehen deshalb ins Haus. Dort setzen sie sich an einen Tisch. Alois wischt sich mit einem Taschentuch den Schweiß von der Stirn und inspiziert die Einrichtung. Verwundert stellt er fest, dass eigentlich alles neu und mit früher nicht mehr zu vergleichen ist. Ein wenig enttäuscht ist er darüber schon.
„Lauter fremde Gesichter“, murmelt er vor sich hin. Früher kannte er jeden, der die Hütte betrat, und ihn kannten auch alle. Manchmal, wenn der Rudi in der Hütte war und Zither spielte und der Wastl ihn auf der Gitarre begleitete, übernachtete er hier. An diese Hüttenabende denkt er noch oft.
Der Hüttenwirt fragt die beiden, was sie trinken möchten, und nimmt die Bestellung entgegen.
Beide gießen ihre Getränke hastig hinunter.
„Das reicht jetzt“, meint Alois, „ich gehe nur noch kurz auf die Toilette und möchte dann wieder nach unten.“
Er geht an der Küche vorbei und biegt den kleinen Gang nach rechts ab. „Das ist noch wie früher“, denkt er sich, doch plötzlich stockt sein Atem, er reißt seine Augen auf, denn was er sieht, ist kaum zu glauben. Er geht bis zum Ende des Ganges weiter. Da hängt sie an der Wand, seine Kraxe, die er zusammengerechnet an die 60.000 Stunden geschleppt hat und die beladen war mit ungefähr 780 Tonnen.
Alois greift nach der Kraxe, holt sie von der Wand und schnallt sie noch mal um. Er geht einige Schritte, betrachtet sich von allen Seiten in einem Spiegel und sein lautes Gelächter schallt durch die ganze Hütte.
Da kommt der Hüttenwirt herbeigeeilt und sagt in einem unhöflichen Ton: „Hängen Sie gefälligst die Kraxe wieder an die Wand. Was glauben Sie, wenn das hier jeder machen würde.“
„Ich darf das“, entgegnet Alois ebenso barsch, „ich bin nämlich der Alois, du kennst mich zwar nicht, aber das ist mir egal. Ich war schon hier in der Hütte, da hast du noch in die Hose geschissen.“
Kopfschüttelnd murmelt der Wirt etwas in seinen Bart und verschwindet wieder in der Küche.
Alois schaut sich noch mit Begeisterung im Spiegel an, dann hängt er die Kraxe wieder vorsichtig wie ein kostbares und zerbrechliches Museumsstück an den Wandhaken.
Bei der Talfahrt fragt Josef seinen Vater, wie es ihm denn gefallen habe.
Alois blickt starr ins Tal hinab und sagt: „Jetzt habe ich alles noch mal gesehen. Es war zwar eher eine Enttäuschung für mich, aber ich bedanke mich trotzdem bei dir. Die Überraschung ist dir gelungen. Dass ich meine Kraxe nach über vierzig Jahren noch einmal umschnallen durfte, wenn es auch nur für einige Minuten war, das war einfach das höchste. Nie hätte ich mir das träumen lassen.“

© by Hermann Bauer