Illustration: Franziska Kuo
Illustration: Franziska Kuo

Bier, Eis und Literatur

Die Fahrradtour, die Anton mit seiner Tochter Jenny während der Mittagshitze eines heißen Sommertages unternahm, war anstrengend und schweißtreibend. Beide mussten mindestens noch fünfzehn Minuten in die Pedale treten, um den Badesee zu erreichen. Sie radelten auf dem holprigen Sandweg neben dem Fluss und freuten sich wie die Schneekönige, als sie am Wegesrand einen Kiosk entdeckten.
Anton drehte sich um und fragte Jenny, die hinter ihm radelte: "Willst du ein Eis?"
"Ja, das wäre super", sagte sie erschöpft.
Sie lehnten die Räder an einen Baum und gingen zum Kiosk.
"Was soll 's denn sein", fragte die ältere Frau. die aus dem kleinen Kioskfenster lugte. Während Anton einen zerknüllten Geldschein aus der engen Hosentasche seiner Jeans fischte, sagte er: "Ein Bier und ein Eis mit zwei Kugeln."
Jenny korrigierte: "Drei Kugeln bitte - Schoko, Pistazie und Erdbeer."
Die Frau mit den grauen Strähnen im Haar presste die Eiskugeln in die Waffel, musterte Anton von oben bis unten und fragte ihn: "Wo sind wir uns begegnet? Ich kenne Sie."
Anton nahm das Eis entgegen, reichte es seiner Tochter und sah die Frau lange an: "Tut mir leid, ich glaube nicht, dass wir uns kennen."
"Sie heißen nicht zufällig Anton", fragte die Frau.
"Doch, ich bin der Anton."
Die Frau reichte ihm die Bierdose und sagte verschmitzt: "Anton, auch du hast dich äußerlich sehr verändert. Deine Stimme kam mir bekannt vor. Ich bin die Eva. Kannst du dich an mich erinnern? Vor 30 Jahren haben wir gemeinsam einen Literaturkreis gebildet. Wir waren in einer Gruppe."
Anton sah dieses faltige und vom Alkohol aufgeschwemmte Gesicht jetzt genauer an. Diese Frau hatte im Leben sicher sehr viel mitgemacht. Nur langsam kehrte bei Anton die Erinnerung zurück. "Die Eva", stammelte Anton erstaunt und überrascht. "Natürlich kann ich mich an dich erinnern. Mit ein paar anderen Leuten haben wir damals Theaterstücke und Hörspiele geschrieben. Wir haben uns immer gut verstanden und haben nächtelang zusammengesessen, debattiert und diskutiert, bis wir beide einen roten Kopf hatten. Du warst sehr talentiert. Schreibst du jetzt noch?"
Eva lächelte verlegen und sagte: "Lange nicht mehr. Einige Jahre habe ich geschrieben, dann habe ich geheiratet, habe Kinder und heute hätte ich nicht mehr den Nerv, die Zeit und die Ruhe, um zu schreiben. Wegen der Existenz habe ich diesen Kiosk übernommen." Sie schüttelte ihre ungepflegten, zotteligen Haare aus dem Gesicht und mit wehmütiger Stimme sagte sie: "Ach, dir geht 's sicher gut. Vor 30 Jahren hast du zu schreiben angefangen. Bist du jetzt ein erfolgreicher Schriftsteller?"
Anton lachte schallend und winkte ab: "Ich bin weder berühmt noch erfolgreich. Sozusagen arm, aber glücklich. Es reicht gerade, so mit Ach und Krach über die Runden zu kommen. Würde meine Frau nicht arbeiten, könnte ich von dem, was ich mit der Schreiberei verdiene, keine Familie ernähren. Traurig, aber wahr. Die Schriftstellerei ist heute schwieriger als vor 30 Jahren."
Eva zeigte ein verständnisvolles Lächeln.
Jenny hatte ihr Eis verspeist und fragte ungeduldig ihren Vater: "Fahren wir jetzt wieder?"
Eva sagte zu Anton: "Du hast eine nette Tochter. Ich bin jedes Wochenende hier. Komm doch mal wieder vorbei."
"Das werde ich", sagte Anton, "dann werden wir über alte Zeiten sprechen." Anton trank den Rest des Bieres und verabschiedete sich von Eva.

Am Baggersee angekommen lag Anton nachdenklich im Schatten eines Baumes auf der Decke. Jenny tobte sich im Wasser aus. Als sie sich tropfnass auf die Decke legte, sagte sie: "Papa, die Frau im Kiosk hat mir extra große Eiskugeln gegeben. War sie mal deine Freundin?"
"Ja, vor vielen Jahren haben wir gemeinsam geschrieben. Damals haben viele meiner Freunde ihre Gedanken und Spinnereien zu Papier gebracht. Wir träumten alle davon, eines Tages erfolgreiche Schriftsteller zu werden. Hätte ich nicht so viel Ausdauer gehabt und hätte ich nicht Menschen wie deine Mutter getroffen, die mir geholfen hatten, würde ich vielleicht auch irgendwo auf der Straße stehen und Eis verkaufen. Wenn ich dann alte Freunde treffen würde, bekämen die von mir auch große Eiskugeln."
"Eisverkäuferin zu sein, ist aber nicht schön", meinte Jenny.
Anton seufzte ungeduldig, sah Jenny ernst an und sagte energisch: "Es gibt keinen großen Unterschied zwischen einem Eisverkäufer und einem Schriftsteller. Die Schriftstellerei ist eine Berufung. Eis zu verkaufen ist eine Notwendigkeit, um zu überleben - und da hat man keine Wahl. Der Lebensweg ist ein Zufall. Viele Zufälle bilden Möglichkeiten, die uns formen. Traurigkeit und Freude, Glück und Pech, Erfolg und Misserfolg liegen ganz nah beieinander. Wichtig ist, das Erlebte richtig zu verstehen. Wir müssen nicht unbedingt große Macht oder Reichtümer besitzen, um das Leben zu genießen. Wir treiben mit dem Fluss des Erlebens nach vorne. Die Wellen sind unterschiedlich hoch. Manchmal werden wir ans Ufer getrieben, dann sollten wir aussteigen und die Umgebung betrachten. Manchmal muss man gegen die Strömung schwimmen. Dazu brauchen wir viel Kraft. Manchmal gibt es Sturm und Regen - dann müssen wir langsamer rudern." Anton schaute Jenny von der Seite an: "Hast du das verstanden?"
Jenny sagte: "Du wolltest sagen, dass es nur wenigen Leuten gelingt, im Leben die ganz große Erfüllung und Zufriedenheit zu finden - und dass es normal ist, wenn Menschen, die einen künstlerischen Beruf haben, am Hungertuch nagen müssen und als Taxifahrer, Lagerarbeiter oder Eisverkäufer jobben müssen." Sie sprang auf. "Ich schwimme noch eine Runde. Das ist schöner als deine schwierigen Gespräche anhören zu müssen."

© by Hermann Bauer