Illustration: Franziska Kuo
Illustration: Franziska Kuo
Coco, der Kakadu

Alfred blätterte im Marokko-Reiseführer. Wie immer traf er seine Urlaubsvorbereitungen in allerletzter Minute. Den Urlaub hatte er sich verdient. Er hatte hart geschuftet in seinem Job und wollte nun eine Woche auf der faulen Haut liegen und in der anderen Woche ein Motorrad oder Auto mieten und die marokkanischen Königsstädte besichtigen.
Wem aber sollte er Coco, seinen lieben Kakadu mit dem lustigen gelben Häubchen, in seiner Abwesenheit anvertrauen? Er wusste es noch nicht, doch es würde sich schon jemand finden, meinte er. Alle hatten Coco schließlich in ihr Herz geschlossen. Manchmal hatte er sogar das Gefühl, dass viele seiner Gäste mehr Freude an dem Papagei hatten als an ihm.
Alfred ging zur Bank und hob Geld ab. Dann besorgte er sich ein Flugticket im Reisebüro und kaufte noch einige wichtige Kleinigkeiten. Wenn er nur schon im Flugzeug sitzen würde...
Abends telefonierte er mit einigen Freunden. Keiner wollte oder konnte Coco für zwei Wochen in Pflege nehmen. Manche hatten die haarsträubendsten Ausreden. Dass dies ein Problem werden würde, hätte er nicht gedacht.
Nach langen Überredungskünsten gelang es Alfred schließlich doch noch, einen geeigneten Pfleger für den Kakadu zu finden, und der freute sich sogar.
Alfred setzte sich ins Auto und fuhr mit Vogel, Käfig, Körnchenfutter und einer Flasche gekühltem Sekt zu Christoph. Ihm erklärte er, wann und wie viel Futter und Wasser er Coco in den Käfig geben müsse. Auch gab er ihm Tipps, wie ein Käfig schnell gereinigt werde.
„Am besten deckst du den Käfig abends mit einem Tuch zu. Dann hört Coco mit dem Reden auf, denn du weißt ja, wenn Coco gut drauf ist, spricht er permanent.“
Zusammen tranken sie noch die von Alfred mitgebrachte Flasche Sekt und sprachen über Marokko. Am späten Abend verabschiedete sich Alfred.
Christoph wollte sich noch einen Film im Fernsehen ansehen, bevor er ins Bett ging. Doch dazu gab ihm Coco keine Chance. Zuerst stieß er markerschütternde Urwaldlaute aus, dann zog er alle Register seines Könnens und begann mit seinem Repertoire. „Komm her“, krächzte er immer wieder.
Christoph ging zum Käfig und kraulte den Kakadu an Brust und Bauch. Das gefiel Coco. Sobald sich Christoph aber vom Käfig entfernte, schrie der Kakadu weiter und sang: „Es gibt kein Bier auf Hawaii“ und „Bier her, Bier her oder ich fall’ um.“
Christoph legte ein Tuch über den Käfig und hoffte, dass der Vogel nun schweigen würde. Doch da täuschte er sich gewaltig. Was sollte er nur machen? Er hatte nur ein Ein-Zimmer-Appartement. Die kleine Küchenzeile wurde nur durch einen Vorhang vom Zimmer abgetrennt. In die Küche konnte er den Vogel also nicht sperren. Da blieben nur noch der winzige Flur oder das Bad übrig.
Christoph nahm den zugedeckten Käfig und stellte ihn im Flur auf den Boden.
Coco fragte ganz traurig: „Kann ich noch ein Bier haben?“
Christoph drehte das Fernsehgerät auf volle Lautstärke und hoffte, dass sich Coco langsam beruhigen würde.
Das Geschrei ließ jedoch nicht nach, es wurde eher schlimmer. Mit seinem kräftigen Schnabel klopfte der Kakadu an den Käfig, der daraufhin klirrte und schepperte. Fürchtete sich Coco vielleicht oder hatte er Heimweh? Christoph war ratlos.
Bis in den frühen Morgen tobte Coco in seinem Käfig, und Christoph fand in dieser Nacht nicht den Schlaf, den er dringend gebraucht hätte. Völlig gerädert fuhr er morgens in die Firma.
Nach Dienstschluss suchte Christoph einen Buchladen auf. Er wollte mehr über Papageien wissen. Vielleicht standen in Büchern Tipps und Tricks, wie man diese Schreihälse zum Schweigen bringen konnte. Er wurde allerdings enttäuscht. In den schönen Hochglanzbildbänden und Vogelbüchern wurde in erster Linie beschrieben, in welchen Ländern die Vögel in der freien Wildbahn zu Hause sind. Über Gefangenschaft in Käfigen fand er keine einzige Zeile.
Als Christoph zu Hause den Fahrstuhl betrat, um in den 3. Stock zu fahren, traf er seinen Nachbarn, der bisher immer freundlich zu ihm war. Heute schaute ihn der Nachbar nicht mal an. Beim Aussteigen sagte der Mann streng: „Wenn Sie ihre Freundin noch einmal so schlecht behandeln, dann rufe ich die Polizei!“
Christoph lachte schallend: „Nein, nein, das war gestern ein Kakadu, den ich für zwei Wochen in Pflege habe. Ich würde doch nie eine Frau quälen – ganz im Gegenteil!“
Misstrauisch wünschte der Nachbar Christoph einen schönen Abend.
Als Christoph verwirrt die Wohnungstür aufsperrte, tobte Coco schon unruhig im Käfig umher. Mehrmals grölte er: „Komm her, komm her...“
Diesmal kraulte Christoph dem Vogel nicht den Bauch und die Brust, sondern suchte im Branchenverzeichnis unter „Tierheime“ und „Zoohandlungen“ eine geeignete Adresse, wo er den Vogel hinbringen wollte.
„Anjas Tierparadies“ hieß eine Zoohandlung gleich in der Nähe von Christophs Wohnung. Er griff zum Telefonhörer und wählte die Nummer.
Anja meinte: „Heute geht es leider nicht mehr, denn ich sperre in wenigen Minuten meinen Laden zu. Aber morgen können Sie den Vogel bis 18 Uhr gerne vorbei bringen. Er wird es gut bei mir haben.“
Christoph rieb sich die Hände und freute sich. Er ging zum Kakadu und sprach ihn hämisch an: „So, du Schreihals, morgen bringe ich dich zum Zoogeschäft. Du nervst mich nicht mehr, verlass dich darauf.“
Coco hielt den Kopf schief und schaute Christoph un-schuldig und traurig an, als ob er dessen Worte verstanden hätte. Dann bedeckte Christoph den Käfig mit einem Tuch, ging in sein Zimmer und ließ seine Stereoanlage dröhnen, um Cocos Geschrei nicht hören zu müssen.
Es verging keine Stunde, da läutete es an der Tür. Christoph öffnete, und zwei Polizisten in Uniform standen vor ihm.
Der eine Polizist sagte: „Wir haben einen Anruf bekommen, dass Sie eine Frau quälen.“
Diesmal lachte Christoph nicht mehr und bat die Polizisten in sein Appartement. Er entfernte das Tuch, das über dem Käfig lag, und sagte zu den Polizisten: „Das ist die angeblich gequälte Frau.“
Erstaunt betrachteten die Polizisten den Vogel, der brav wie ein Lamm in seinem Käfig hockte und schwieg.
„Wollen Sie uns verarschen?“, fragte der schnauzbärtige Polizist, während sich der andere in der Wohnung umsah. Auch auf den Balkon warf er einen Blick.
Christoph schaute den Vogel an, als ob er ihn hypnotisieren wollte, und sagte: „Na, nun sag doch was!“
Der Kakadu schaute neugierig umher und schwieg weiter. Erst als die Polizisten schon wieder gehen wollten, krächzte Coco einen seiner Lieblingssätze: „Kann ich noch ein Bier haben?“
Da schmunzelten die Polizisten und meinten: „So geben Sie dem armen Kerl doch ein Bier, vielleicht beschweren sich Ihre Nachbarn dann nicht mehr; denn ein besoffener Papagei schläft wahrscheinlich und schreit nicht.“ Lachend und kopfschüttelnd verschwanden die Polizisten.
Christoph holte sich aus dem Kühlschrank ein Bier, entfernte den Kronkorken und trank gleich aus der Flasche einen kräftigen Schluck. Das tat gut nach diesem Schreck. Coco gab er natürlich kein Bier. Er wollte den armen Kakadu nicht quälen, denn schließlich konnte der ja nichts dafür. Das alles steckte eben in seiner Natur.
Am nächsten Tag brachte Christoph Coco zu „Anjas Tierparadies.“ Die Räume waren groß und hell, und Coco war in bester Gesellschaft. Mehrere Papageien krächzten um die Wette.
Christoph bezahlte die Pflege und schrieb Alfred einen Brief, in dem er ihm alles mitteilte und sich auch entschuldigte.
Alfred war jedoch schwer beleidigt, denn er hatte seinem Coco einen Aufenthalt in einem Zoogeschäft ersparen wollen. Das war aber noch das kleinere Übel. Viel schlimmer war, dass sich in der Wohnanlage das Gerücht hielt, Christoph sei ein Frauenschänder.
Ein älterer Herr meinte: „Komisch, dass der Kerl angeblich zwei Wochen einen Papagei hatte, der Vogel aber nur zwei Tage lang schrie. Da stimmt doch etwas nicht!“
Eine Studentin wurde in ihrer Meinung bestätigt: „Ich habe schon immer gesagt, dass dieser Christoph pervers veranlagt ist. Das sieht man ihm doch schon an!“
Und eine ältere Dame wusste: „Bei Gerüchten ist es doch stets dasselbe – ein Funken Wahrheit steckt immer drin!“

© by Hermann Bauer