Illustration: Franziska Kuo
Illustration: Franziska Kuo

Der Einkaufswagen

Ursula Fischer nahm den vollgeschriebenen Zettel von der Pinwand. Auf dem Papier stand: Obst, Salat, Tomaten, Öl, Eier, Brot, Käse, Joghurt, Klopapier.
Früher, als sie sich die Lebensmittel, die ihr ausgegangen waren, noch nicht aufschrieben hatte, hatte sie beim Einkaufen immer die Hälfte vergessen. Das passierte ihr jetzt nicht mehr.
Sie zog ihre Jacke an, steckte den Zettel ein und ging zum Lebensmittelgeschäft. Dort wühlte sie in ihrer Geldbörse. Leider hatte sie kein Kleingeld dabei. Es nervte sie ohnehin, dass man in die Einkaufswagen einen Euro hineinstecken musste.
Sie ging zur Kasse und fragte die Kassiererin: „Können Sie mir bitte den Schein wechseln?“
Widerwillig gab ihr die gestresste Kassiererin das gewünschte W<echselgeld mit dem Hinweis: „Komisch, es sind immer dieselben, die kein Kleingeld dabei haben.“
Als Ursula zu den Einkaufswagen gehen wollte, bot ihr ein grauhaariger Herr seinen Wagen an. Sie drückte ihm einen Euro in die Hand und konnte endlich einkaufen...
Vollgepackt mit zwei Plastiktüten wollte sie nach ihrem Einkauf den Wagen zurückschieben, als der Hausmeister des Wohnblocks, in dem sie wohnte, vor ihr stand. Er grüßte sie, fragte sie, wie es ihr gehe und gab ihr einen Euro. Dafür bekam er Ursulas Wagen.
Der Hausmeister kaufte nur Getränke, Brot und Wurst ein. Als er den Einkaufswagen an die anderen kettete, staunte er, als er eine alte Ein-Franc-Münze aus Frankreich zurückbekam, die der Ein-Euro-Münze stark ähnelte, zumindest auf den ersten Blick. Er dachte sich: „Das hätte ich der Frau Fischer nicht zugetraut, dass sie ahnungslose Leute bewusst betrügt und ihnen minderwertige, wertlose Münzen unterjubelt.“

Seit dieser Zeit trug der Hausmeister die Ein-Franc-Münze im Geldbeutel spazieren. Er überlegte schon, ob er sie auch in einen Einkaufswagen stecken sollte, da er aber ein grundehrlicher Mann war, brachte er dies nicht übers Herz. Aber er hatte eine Idee, wie er den Franc loswerden könnte ...
Als an der Eingangstür des Wohnblocks das Sicherheitsschloss ausgetauscht werden musste, sammelte der Hausmeister im ganzen Haus das Schlüsselgeld ein. Er klingelte auch bei Frau Fischer, übergab ihr die Quittung und meinte: „Weil ich soviel Kleingeld bei mir habe, kann ich Ihnen gerne auf einen Schein herausgeben.“ Der Hausmeister hatte vor, ihr dabei die Ein-Franc-Münze wieder zurückzugeben.
Frau Fischer wühlte in ihrem Geldbeutel und sagte: „Ich kann es Ihnen rechtmachen.“ Dann fing sie an, dem enttäuschten Hausmeister den Geldbetrag in Münzen in die Hand zu zählen.
Der Hausmeister sagte noch augenzwinkernd: „Aber bitte keine Francs!“
Ursula Fischer schaute erstaunt und fragte: „Welches Land hat denn Francs?“
Darauf antwortete der Hausmeister: „Das müssen Sie doch wissen!“
Frau Fischer erklärte, dass sie seit Jahren immer nur nach Italien reise.

Tage darauf traf er Frau Fischer zufällig auf der Straße. Sie hatte einen Einkaufskorb dabei. Der Hausmeister konnte es sich nicht verkneifen zu fragen: „Gehen Sie zum Einkaufen? Hoffentlich haben Sie genügend Francs dabei!“
Ursula Fischer verstand zwar nicht, was der Hausmeister damit meinte, sagte aber, während sie an ihm vorbeiging: „Ja, ja“.
Der Hausmeister wunderte sich über die Frechheit, dass Frau Fischer jetzt ihm gegenüber sogar zugab, Währungen anderer Länder in Geschäften in Umlauf zu bringen.
Wochen später kaufte sich Ursula einen neuen Badezimmerschrank und bat den Hausmeister, ihn an die Wand zu montieren. Der geschickte Handwerker hängte das Schränkchen mit wenigen Handgriffen auf.
„Das ging aber schnell“, staunte Ursula und steckte dem Hausmeister als Trinkgeld einen Geldschein in seine Hemdtasche.
Der Hausmeister griff in die Tasche, schaute den Schein an und meinte: „Mal sehen, ob Sie mir nicht etwa Falschgeld andrehen.“
Ursula ärgerte sich über diesen unverschämten Flegel und bereute, ihm so viel Trinkgeld gegeben zu haben.

Im Spätsommer fand in dem Wohnblock, in dem Ursula wohnte, ein Straßenfest statt. Für die Kinder wurde eine Hüpfburg aufgebaut. Eine Country-Band spielte Oldies von Hank Williams, Johnny Cash und Kenny Rogers. Es gab kulinarische Köstlichkeiten, und eine Brauerei schenkte Bier aus.
Da die Kommunalwahlen vor der Tür standen, hatte auch eine politische Partei einen Stand aufgebaut, um Prospektmaterial und kleine Geschenke an die Leute zu bringen.
Ursula unterhielt sich mit den Nachbarn und aß eine Wurst vom Grill. Dabei kam sie auch mit dem Hausmeister ins Gespräch. Alle Mieter hatten von ihm eine gute Meinung, weil er fleißig, ordentlich, pflichtbewusst und hilfsbereit war und zudem viel Humor besaß.
Ursula war jedoch anderer Meinung. Sie fand ihn unverschämt, und das sagte sie dem überraschten Hausmeister auch ins Gesicht. Bei einem langen Gespräch unter vier Augen klärte sich das Missverständnis mit dem Einkaufswagen und dem Franc dann glücklicherweise auf. Dem Hausmeister tat das Ganze jetzt sehr leid. Er entschuldigte sich, spendierte Frau Fischer ein Getränk, griff in seine Geldbörse und schenkte ihr die Ein-Franc-Münze.

Ursula trug sie monatelang als Glücksbringer in ihrem Geldbeutel. Dann überlegte sie, ob es sinnvoll sei, diese Münze, mit der sie sich nichts kaufen konnte, noch eine halbe Ewigkeit mit sich herumzuschleppen.
Beim nächsten Einkauf, als sie wieder mal keinen Euro in der Tasche hatte, steckte sie die Ein-Franc-Münze in einen Einkaufswagen.
Als sie mit dem Einkaufen fertig war und hoffte, dass ihr jemand eine Münze in die Hand drücken würde, sprach sie ihr Vermieter an: „Hallo, Frau Fischer. Wir haben uns ja lange nicht mehr gesehen. Ist alles o.k.?“
Der armen Ursula lief es kalt den Rücken hinunter. Der Vermieter wollte natürlich ihren Wagen haben. Sie versuchte alles, um ihm den Einkaufswagen nicht geben zu müssen, sie lenkte ihn ab, hatte aber letztendlich keine Chance.
Als der Vermieter mit dem Wagen durch die Einkaufsreihen schlenderte, schaute Ursula ihm noch eine Weile nach. Glück hatte ihr die Ein-Franc-Münze nicht gebracht.

© by Hermann Bauer