Die schöne Fee fliegt zum Mond
Am
15. Tag des achten Monats nach dem Mondkalender saßen nachts hunderte
von Elfen am Waldrand auf einer Wiese und betrachteten seit Stunden
fasziniert den goldgelb gefärbten Vollmond am Himmelszelt. Die Elfen
tranken Wein, spielten auf Saiteninstrumenten und sangen meditative
Lieder, rezitierten Mondgedichte und verzehrten genüsslich
selbstgebackenen Mondkuchen.
Alle
Tiere im Wald kamen herbei und freuten sich über das Ereignis. Die
wenigsten kannten aber den Anlass. Eine Elfe ergriff deshalb das Wort:
„Heute feiern wir das Mondfest.“
Die
Tiere legten sich ins Gras und lauschten erwartungsvoll der Elfe, die
mit sanfter Stimme fortfuhr: „In dieser Mondnacht kann man am
deutlichsten die schöne Fee namens Chang-E im Mond sehen. Im Palast der
Ewigen Kälte hat sie ihren Wohnsitz. Chang-E war die Frau des
Bogenschützen Ho-Yi. Dieser beendete einst eine tödliche Dürre auf der
Erde. Er bestieg den Gipfel des Kunlun-Berges und schoss neun der
damaligen zehn Sonnen mit seinem mächtigen Bogen vom Himmel ab. Er
befahl der letzten Sonne, jeden Tag pünktlich auf- und unterzugehen.
Chang-E und Ho-Yi lebten glücklich miteinander bis Ho-Yi eines Tages
beschloss, den Unsterblichkeitstrank von der Königin des Westens zu
erbitten. Er wollte ewiges Glück. Nach mancherlei Abenteuern erhielt er
das Zauberelixier. Chang-E und Ho-Yi sollten den Trank am Vollmondabend
des 15. Tages im achten Monat zu sich nehmen. Am Nachmittag dieses
Tages wurde aber Ho-Yi von einem seiner Bogenschützen-Schüler
hinterhältig erschossen. Der Mörder wollte die schöne Chang-E besitzen
und den Zaubertrank stehlen. Voller Panik lief Chang-E um ihr Leben.
Bestürzt schluckte sie den Trank. Nun war sie unsterblich. Während sie
flüchtete, hob sich ihr Körper vom Boden. Sie wurde leicht wie eine
Feder und begann wie eine Wolke zu schweben. Sie stieg empor bis sie
zum Mond kam. Auf dem Mond lebten bereits zwei Wesen: ein weißer
Jadehase und ein Holzfäller. Beide hatten ein prächtiges Schloss aus
Schnee und Eis gebaut. Sie luden Chang-E in das Schloss ein. Seitdem
wohnte auch sie dort. Chang-E widmete sich der Aufgabe, mit jedem
Strahl des Mondscheins den Menschen Trost, Fröhlichkeit, Liebe und
Glück zu bringen. Seither wird überall im Reich der Mitte, aber auch
bei uns im Elfenland das Mondfest gefeiert. Kommt alle und esst mit uns
den Mondkuchen. Der runde Kuchen soll uns allen den Zusammenhalt
schenken und uns mit Glück und Liebe erfüllen bis zum nächsten Jahr.“
Begeistert
schlemmten die Elfen und alle Tiere des Waldes den köstlichen
Mondkuchen. Sie blickten zum Mond hinauf bis in die tiefe Nacht hinein.
Chang-E und der Jadehase winkten der Festgesellschaft zu und schickten
Sternschnuppen zur Erde.
Der
Mond wurde immer blasser und der Tag brach an. Es blieb jedoch der Duft
von Harmonie und des Friedens, bis sich genau in einem Jahr die Elfen
und die Tiere des Waldes am gleichen Ort wieder trafen.
© by Hermann Bauer