Freizeitstress
Edgar musste noch einige dringende Angebote mit der Post rausschicken und ein paar Mails versenden. Deshalb kam er am Freitag etwas später aus dem Büro als sonst. Er hastete schnell heim, denn jetzt wurde es verdammt eng. Er wollte unbedingt noch Lebensmittel und Getränke besorgen, da sein Kühlschrank gähnend leer war. Er hasste es nämlich, am Samstag einzukaufen, denn er konnte sich doch nicht das kostbare Wochenende damit versauen.
Glücklicherweise schaffte er in letzter Minute noch alles. Während er einen Apfel aß, telefonierte er mit Frank. Dieser hatte schon den Wetterbericht gehört und war ganz begeistert: „Morgen sollten wir unbedingt surfen. Es soll einen tollen Westwind geben.“
Also verabredeten die beiden, sich gegen zehn Uhr am See zu treffen.
Anschließend hörte Edgar noch seinen Anrufbeantworter ab. Ein Freund hatte auf das Band gesprochen, Edgar möchte doch am Freitag abends noch ins Musiklokal „Quartier Latin“ kommen, um mit ihm eine oder mehrere Partien Schach zu spielen.
Edgar duschte kurz und machte sich auf den Weg ins „Quartier Latin“. An diesem Abend hörte er wie gewohnt eine tolle Musik, spielte den ganzen Abend Schach, und als er ging, wusste er gar nicht mehr, wie viele Biere er getrunken hatte. Der Schädel brummte ihm, und er torkelte todmüde ins Bett.
Am Samstag früh montierte Edgar noch den Dachständer auf sein Auto. Dann holte er sein Surfbrett aus dem Keller, schnallte es auf den Träger, sprang hastig ins Auto, denn er war wieder mal viel zu spät dran, und fuhr so schnell wie möglich zum See.
Als er ankam, war Frank schon da. Er schaute skeptisch zum Himmel und meinte: „Wenn der Wind nicht bald kommt, müssen wir etwas anderes unternehmen. Was hältst du davon, wenn wir versuchen, noch einen Tennisplatz zu bekommen?“
Sie warteten noch eine Stunde, gingen nervös und verärgert am Seeufer auf und ab, sprachen mit anderen, die ebenfalls surfen wollten und entschlossen sich schließlich, den Tennisclub anzurufen.
Sie hatten Glück. Zwischen 13 und 14 Uhr bekamen sie noch einen Platz. Also geschwind rein ins Auto.
In der Mittagshitze des ohnehin schon heißen Sommers spielten sie bis zur totalen Erschöpfung Tennis. Danach fuhren sie zu einem nahe gelegenen Baggersee, um zu schwimmen und sich zu sonnen. Zum Essen hatten sie gar keine Zeit. Zwischendurch ein Hot dog und ein Bier am See-Kiosk musste reichen.
Sie hatten noch viel vor an diesem Samstag: Squash, Kino und Diskothek. Am Sonntag dann eine Motorrad- oder Mountainbiketour und abends eine nette Kneipe...
Wie an jedem Montag kam Edgar völlig gerädert und ausgepumpt ins Büro. Das Wochenende war wieder sehr anstrengend gewesen.
Er goss sich einen starken Kaffee in seine Tasse und sprach mit seinen Kollegen auf dem Flur über das verbrachte Wochenende. Alle schimpften über den Stau, der bei schönem Wetter stets vorprogrammiert war, und über die vielen Leute, die unterwegs gewesen waren. Der eine hatte den Wind vermisst, einem anderen war es viel zu heiß gewesen und ein dritter war froh, wieder im Büro arbeiten zu dürfen, da das Familienleben mit den lebhaften Kindern an seinen Nerven gezehrt hatte.
Nur einer, der in der Firma mitleidig belächelt und „Guru der Selbstbeschränker“ oder „Missionar der Einfachheit“ genannt wurde, hatte offensichtlich ein wunderbares Wochenende erlebt, war sehr zufrieden und sah erholt aus.
Der Guru sagte: „Guten Morgen, ihr Chaoten und Gestressten.“ Dann missionierte er wieder: „Ich brauche zum Glücklichsein nicht viel, keine Designerklamotten, keinen Swimmingpool und keine Online-Spielereien. Freiwillige Einfachheit heißt der neue Trend. Immer mehr Menschen wie ich verzichten auf Statussymbole und nehmen sich lieber Zeit für ein stressfreies Privatleben, das durchaus nicht spartanisch sein muss. Die neue Bescheidenheit bedeutet Entzug von oberflächlichem Marken- und Konsumrausch. Zurück zu wichtigeren Dingen. Kommunikation statt Konsum, Gemütlichkeit statt Gier.“
Dann erzählte er von einer Bergtour, die er am Sonntag unternommen hatte. Er war bereits so früh losgefahren, dass er mit dem Auto allein auf der Straße gewesen war. Er hatte Fliegenpilze gesehen, sich am Duft von frisch umgesägten Baumstämmen erfreut, war auf einen Jägerstand geklettert, um von dort aus Rehe und Hirsche zu beobachten, hatte auf einer Koppel ein Pferd gestreichelt, sich über Wanderer gewundert, die am Gipfel auf die Uhr geschaut hatten und der Meinung gewesen waren, dass sie diesmal besonders schnell gegangen seien. Von der Natur hatten sie natürlich nichts gesehen.
Dann erzählte er weiter: „Heute morgen war ich zeitig dran. Ich bin deshalb eine Station eher aus der U-Bahn ausgestiegen und noch durch den Park gegangen. Ich habe diese Ruhe genossen und tief ein- und ausgeatmet. In der Ferne huschte ein Feldhase über einen Hügel. An einem verlassenen Spielplatz lagen noch einige Bälle, die Kinder vergessen hatten. Amseln und Finken hüpften schon munter umher. Der Westwind wehte leicht, schob mächtige Wolken vor sich her und zerzauste meine Haare. Ich kam an eine große Wiese. Dort machte ich meine Tai-Chi-Übungen. Über Stretching, Jazz-Gymnastik, Aerobic, Aqua-Running, Nordic Walking, Step, Thai-Do-Power, Sunday Workout oder wie diese Modeerscheinungen auch hießen, spricht längst kein Mensch mehr. Tai Chi ist eine über 4.000 Jahre alte, traditionelle chinesische Gymnastik, die auf der Philosophie des Tao, dem Yin und Yang beruht. Die Bewegungsformen sind langsam, fließend, harmonisch und werden ohne Kraftanstrengung ausgeführt. Das Ganze ist eine Meditation in der Bewegung. Deshalb bin ich so ausgeglichen. Und obwohl diese Übungen schon so alt sind, sind sie immer noch aktuell, besser und gesünder als all die neuen Übungen. Dazu braucht man keine teuren Platzmieten in irgendwelchen stickigen Hallen zu zahlen, auch keine gestylte und teure Sportausrüstung Tai Chi kostet keinen einzigen Cent...“
Die Zuhörer wurden schon langsam zappelig, keiner konnte sich mehr konzentrieren, alle waren zu nervös für solche salbungsvollen Worte.
In irgendeinem Zimmer klingelte das Telefon, und als hätte man Hühner auseinander gescheucht, verschwand einer nach dem anderen in sein Zimmer und gackerte bzw. telefonierte. Nun hatten alle ihren Stress wieder, den sie anscheinend so dringend brauchten.
Nur einer, der aufmerksam zugehört hatte, meinte: „Irgendwie hat der Guru schon Recht, der hat viel mehr vom Leben als wir. Der Freizeitstress, den wir betreiben, ist nichts anderes als falscher Ehrgeiz. Wir gehen an vielen herrlichen Sachen einfach vorbei und erkennen die Schönheit des Lebens nicht, die oft im Einfachen liegt und die man für Geld nicht bekommt. Man muss nur seine Augen öffnen.“
Edgar, der dies hörte, schüttelte den Kopf und sagte: „Aha, der Möchtegern-Weltverbesserer hat wieder einen neuen Jünger gefunden! Gut artikulieren kann er ja, der Jutetaschen-, Birkenschuh- und Kombucha-Philosoph. Aber dieser Klugscheißer, der alles durch eine rosarote Brille sieht, lebt in einer Fantasiewelt, die es nicht gibt. Die Realität des Alltags ist anders. Der körnerfressende Tai-Chi-Trottel ist doch ein totaler Spinner. Der gehört ins Irrenhaus. Dort wird er auch früher oder später landen. Und du nimmst so einen Idioten ernst?“
© by Hermann Bauer