Illustration: Franziska Kuo
Illustration: Franziska Kuo

Der Fremde im kleinen Dorf

Es regnete. Der Lastwagenfahrer, der Günter abends als Anhalter hatte mitfahren lassen, warf ihn verärgert zwischen zwei Ortschaften aus dem Wagen. Es hatte keinen richtigen Grund zum Streit gegeben, es war lediglich eine harmlose Meinungsverschiedenheit.
Der Lastwagenfahrer kurbelte die Scheibe herunter, grinste hämisch und rief Günter nach: „Dann mach es mal gut!“
Günter wusste nicht, in welcher Gegend er sich befand. Neben ihm war ein Rapsfeld, dahinter vermutlich ein Kartoffelacker. In weiter Ferne sah er ein paar Häuser. In einigen davon brannte noch Licht. Auf der Straße gab es keine Beleuchtung.
In der Dunkelheit übersah Günter die meisten Dreckpfützen und stampfte mit seinen abgelatschten Stiefeln voll hinein.
Ein Motorradfahrer kam ihm entgegen. Günter winkte ihm zu und rief: „Hallo.“ Doch der nahm keine Notiz von ihm und fuhr weiter.
Der heftige Regen prasselte auf Günters Anorak. Er merkte, wie langsam seine Socken feucht wurden. Die ersten Häuser hatte er jetzt erreicht. Eine Katze lief ihm über den Weg, und ein Hund bellte.
Eine Bäuerin öffnete das Fenster und sprach ihn an: „Wo willst du denn noch hin, mitten in der Nacht?“
Günter wischte sich mit der Hand den Regen aus dem Gesicht. Mit vor Kälte zitternder Stimme stotterte er: „Eine Übernachtungsmöglichkeit suche...“
„So etwas gibt es hier im Ort nicht“, unterbrach ihn die Bäuerin. „Aber 500 Meter weiter ist eine Kneipe. Vielleicht bekommst du da wenigstens noch etwas zu essen.“ Sie schaute ihn dabei skeptisch und misstrauisch an.
Im Wohnzimmer der schwerhörigen Bäuerin flimmerte in voller Lautstärke ein Fernsehgerät. Günter erkannte die unverwechselbare Stimme eines Kommissars aus einer beliebten Krimi-Serie. Im Film gab es einige Schüsse, dann knallte die Frau das Fenster zu.
„Also auf zur Kneipe“, dachte sich Günter. Er ging an einigen Baustellen vorbei und stand bald darauf vorm „Wirtshaus zum Schwarzen Adler.“ Die Fensterscheiben hatten Sprünge.
„Eine richtige Räuberhöhle, da bin ich ja richtig“, grinste Günter. Er öffnete die knarzende, schwere Eichentüre und betrat einen vollgequalmten Raum. Die einheimischen Männer starrten ihn alle an.
Der bärtige Wirt lächelte, als er Günter tropfnass wie ein Häufchen Elend sah, und bot ihm an: „Du kannst deine feuchten Klamotten ausziehen. Ich gebe dir etwas Trockenes.“
Er führte ihn in die Küche. Die Köchin trocknete gerade ab.
Der Wirt reichte ihm eine Hose, ein Hemd und einen Pullover. Günter zog die trockenen Kleidungsstücke an. Dabei fiel ihm unglücklicherweise seine Pistole aus der Hosentasche.
Die Köchin und der Wirt taten, als hätten sie nichts bemerkt, der Köchin fiel auch ein schlecht verheilter Streifschuss an Günters Arm auf.
Günter ging wieder in die Gaststube und setzte sich an einen freien Tisch. Er überlegte, wo er den Wirt schon mal gesehen hatte. Plötzlich wusste er es. Vor vielen Jahren hatten sie im gleichen Gefängnis gesessen, doch beide hatten sich äußerlich sehr verändert.
Der Wirt legte Günter die Hand auf die Schulter und sagte: „Ein warmes Essen gibt es nicht mehr, aber einen Wurstsalat kann ich dir noch bringen.“
„Ja, den hätte ich gern und ein Bier“, antwortete Günter.
Er hatte in seinem Leben schon bessere Wurstsalate gegessen. Das war ihm aber im Moment egal, denn er hatte einen langen Tag hinter sich und einen Bärenhunger.
Als er mit dem Essen fertig war, betrachtete Günter die kartenspielenden, grölenden Männer. Alle waren sturzbetrunken.
Während er noch die Männer musterte, setzte sich ein junger Mann an seinen Tisch. Er sah Günter in die Augen und fragte ihn: „Probleme? – Kann ich dir vielleicht helfen?“
Günter winkte ab und stieß gereizt hervor: „Ich suche eine Übernachtungsmöglichkeit. Das ist momentan meine einzige Sorge.“
Tom, so hieß der hilfsbereite Maurer, schlug vor, er könnte bei ihm übernachten. Günter nahm dankend das Angebot an.
Tom bohrte weiter: „Wie bist du eigentlich in unser gottverlassenes Nest gekommen?“
„Ach, das ist eine lange Geschichte. Ich erzähle sie dir morgen, ich bin schon zu müde“, murmelte Günter.
Tom klatschte ihm mit der Hand auf den Oberschenkel. „Gut, dann brechen wir auf.“
Günter bezahlte seine Zeche, zog seine mittlerweile fast trockenen Klamotten wieder an und bedankte sich nochmals für die spontane Hilfe. Dann gingen die beiden zu Toms Haus.
„Wir sind erst eingezogen“, erzählte Tom. Im Flur standen noch Umzugskartons. Es roch nach frischer Farbe und nach Holz.
Tom holte aus dem Keller eine Matratze, auf der Günter schlafen sollte. Aus einer Ecke kramte er noch eine Decke hervor und wünschte Günter dann eine gute Nacht.
Günter konnte vor Sorgen lange nicht einschlafen. Zu viele Gedanken gingen ihm durch den Kopf. Würde ihn die Polizei morgen schon schnappen?
In der Frühe wurde er von Tom geweckt: „Steh auf, ich kann dich in die Stadt mitnehmen. Von dort kannst du dann mit dem Bus oder der Bahn weiterreisen.“ Dabei betonte er das Wort „weiterreisen“. Man sah ihm an, wie neugierig er war. Er wollte unbedingt wissen, unter welchen Umständen der Fremde ausgerechnet in diesem kleinen Ort gelandet war.
Wenig später stieg Günter in Toms Lieferwagen ein. Beide schwiegen und lauschten der Musik, die aus dem Autoradio klang.
Plötzlich wurde die Musik ausgeblendet, und der Nachrichtensprecher sagte mit ernster Stimme: „Und nun eine aktuelle Durchsage der Kriminalpolizei...“
Tom suchte einen anderen Sender, als ob er damit Günter eine Freude machen wollte, und stellte die Lautstärke ganz leise. Dann meinte er, Günter von der Seite ansehend: „Ich weiß eigentlich recht wenig von dir.“ Er schmunzelte und legte los: „Du flüchtest vor etwas. Wahrscheinlich hast du ein Verbrechen begangen und aus irgendwelchen Gründen nicht die Großstadt erreicht, wo man leichter untertauchen könnte. Unfreiwillig hast du eine Nacht in unserem kleinen Dorf verbracht. Alle Männer im „Schwarzen Adler“ ahnten das. Keiner fragte dich jedoch aus. Du versuchst zwar, dich möglichst unauffällig zu bewegen, bist aber unsicher und traust keinem. Hilfe brauchst du aber doch, um weiter zu kommen, das heißt, um die rettende Großstadt zu erreichen, nicht wahr?“
Günter schüttelte den Kopf und sagte: „Ich arbeite für einen Buchverlag, der einen Wanderführer von dieser herrlichen Gegend herausbringen wird. Ich wandere diese Strecken ab und beschreibe die Wege. Leichtsinnigerweise glaubte ich vorgestern dem Wetterbericht, der gutes Wetter prophezeite, und ließ meinen Regenumhang im Auto liegen. Außerdem habe ich mich verlaufen. Ein Lastwagenfahrer wollte mich zu meinem geparkten Auto bringen, doch wir kamen wegen einer Lappalie ins Streiten, und der Flegel warf mich einfach aus dem Wagen. Den Rest kennst du.“
Tom war beruhigt und schnaufte tief durch. „O.k., dann fahre ich dich jetzt zu deinem geparkten Auto.“
Sie hatten den Platz bald erreicht und verabschiedeten sich. Günter versprach, bei Gelegenheit mal wieder in den „Schwarzen Adler“ zu kommen.
Tom war immer noch misstrauisch. Er parkte seinen Wagen am Straßenrand und beobachtete Günter im Rückspiegel.
Plötzlich rasten aus einer Nebenstraße zwei Polizeiautos mit quietschenden Reifen zum Parkplatz. Günter ließ sich widerstandslos festnehmen.
Tom fuhr zu seinem Arbeitsplatz. Unterwegs kaufte er sich am Kiosk eine Zeitung. Auf der ersten Seite erkannte er das Bild von Günter. Die Überschrift lautete: „Gefährlicher Gewaltverbrecher in unserem Landkreis. Vorsicht, der Täter ist bewaffnet.“
Tom brannte darauf, abends im „Schwarzen Adler“ seine Erlebnisse in allen Einzelheiten zu berichten.
Der Wirt erzählte, dass er Günter gestern nicht wieder erkannt habe, dafür aber sofort auf dem alten Foto in der Zeitung.
Tom war die Hauptperson an diesem Abend. Immer wieder musste er seine Story erzählen, und er tat es gerne.
Plötzlich trat die Köchin zum Stammtisch, blätterte mehrere zerknüllte Geldscheine auf den Tisch und sagte: „Schaut mal, das habe ich zwischen den Töpfen gefunden.“ Sie zog noch ein Stück Papier hervor und las vor: „Hallo, ihr seid prima Typen! Wie ihr mir aus der Patsche geholfen habt, war toll. Wenn ihr diesen Zettel lest, bin ich entweder schon über alle Berge, oder die Polizei hat mich geschnappt. Als Dank lade ich alle ein. Ich schaue, nachdem ich meine zwei bis fünf Jahre abgesessen habe, gerne mal wieder bei euch vorbei. Euer idyllisches Dorf gefällt mir sehr gut. Hier könnte ich sesshaft werden. Also, bis bald, euer Günter.“
Da saßen sie nun, die Stammtischbrüder, und schwiegen. Manche hatten Tränen in den Augen.
Der Wirt erhob sein Glas und krächzte mit versoffener Stimme: „Auf das Wohl von Günter. Sollte er wieder bei uns aufkreuzen, helfen wir ihm, so gut wir können, und geben ihm eine Chance zu einem neuen Anfang. Günter ist nämlich wirklich ein anständiger Kerl, der anscheinend momentan nur falsche Freunde hat. Wir können ihm mit vereinten Kräften helfen und ihm eine Arbeit in der Landwirtschaft geben, denn hart arbeiten kann er.“
Alle in der Kneipe applaudierten und tranken auf das Wohl von Günter.

© by Hermann Bauer