Illustration: Franziska Kuo
Illustration: Franziska Kuo

Das Geheimnis im Keller

Nervös schaute Erich Kunzmann auf die Küchenuhr. In einer Stunde hatte er mit seiner Frau Ruth einen Termin beim Notar.
Vor sieben Jahren hatten sie geheiratet, hatten sieben fette Jahre hinter sich: Fernreisen, Restaurantbesuche, Theater, Konzerte, teure Kleidung.
„Jetzt kommen wohl die sieben mageren Jahre“, dachte sich Erich Kunzmann und schüttete das Pulver, das ihm sein Hausarzt für seinen angegriffenen Magen verschrieben hatte, in ein Glas Wasser. „Darauf Prost“, murmelte er vor sich hin.
Seine Frau kam mit einer Kaffeetasse in der Hand in die Küche gestürmt: „Erich, es ist höchste Zeit, wir müssen fahren.“
War es richtig, die 4-Zimmer-Jugendstilwohnung zu kaufen und sich so hoch zu verschulden? Zugegeben, diese Eigentumswohnung war wunderschön: Parkettböden, Stuckdecken, ein Esszimmer mit Erker und zwei Balkons. Die Mieter, die noch in der Wohnung lebten, wollten aus beruflichen Gründen bald ins Ausland umziehen. Dann würde eine Zeit und Geld raubende Altbausanierung kommen...
Die Holztreppen zum Notar knarzten. Erich und Ruth Kunzmann sprachen kein Wort. Beide waren aufgeregt. Es war schließlich ihr erster Wohnungskauf.
Der bisherige Wohnungsbesitzer und der Makler erwarteten sie bereits. Gleich darauf wurden alle zum Notar gerufen.
Der Notar leierte mit einer rasanten Schnelligkeit den Text des Kaufvertrages herunter und fragte, über den Brillenrand blickend: „Gibt es hierzu noch irgend welche Fragen?“
Es gab keine Fragen, zumindest momentan noch nicht. Dann unterzeichneten Erich und Ruth Kunzmann das Schriftstück...
Ein halbes Jahr verging. Die Mieter kündigten an, dass sie in drei Monaten ausziehen wollten.
„Der Keller ist schon frei“, sagten sie. „Der Krempel, der noch drin liegt, war vor unserem Einzug schon da. Wenn Sie wollen, können Sie den Keller schon nutzen.“ Erich und Ruth waren begeistert. Noch am gleichen Abend schaute sich Erich das Kellerabteil genauer an. Es waren ungefähr dreißig Quadratmeter und mindestens sechzig Zentimeter dicke Mauern. Die Decke war gewölbt, wie man sie oft in Weinkellern sieht. Vereinzelt sprang der Putz ab. Spinnweben hingen überall herunter. In der Deckenmitte des Kellerabteils war eine Lampe angebracht. Die Birne hatte sicher nur dreißig Watt. Der Raum wirkte düster und unheimlich. An der Wand stand ein morsches Holzregal. Darin befanden sich Kartons mit alten Rechnungs- und Bestellformularen, die Erich gleich wegwarf.
Er beschloss, am kommenden Wochenende das Kellerabteil zu säubern, die Regale herauszureißen und alles weiß zu streichen.
Am Samstag fing Erich sehr früh mit der Arbeit an. Als erstes drehte er eine 500-Watt-Birne in die Lampenfassung. Jetzt war der Raum hell wie bei Tageslicht.
Dann zertrümmerte er mit einem Vorschlaghammer die vergammelten Holzregale. Da sah er etwas Sonderbares: Wo vorher das Regal gestanden hatte, zeichnete sich an der Wand ein plakatgroßes, gelbes Feld ab. War die Wand hier feucht? Nein, sie fühlte sich trocken an.
Erich klopfte an die Wand. An der gelben Färbung klang sie hohl. Ein Kamin konnte es nicht sein. Er kratzte ein wenig am Anstrich. An dieser Stelle war die Wand amateurhaft ausgebessert. Er schlug mit dem Hammer mehr Putz frei. Unten kam ein Holzstück zum Vorschein.
Erich wurde neugierig und beschloss, das Holz freizulegen. Die dünne Holzplatte löste sich leicht, und er riss sie heraus. Ihm stockte der Atem. Er stand vor einem selbstgebauten Safe, etwa dreißig Zentimeter tief in die Wand hineingehend. Darin befanden sich aufeinander geschichtete Zigarrenkisten, Kakao- und Keksdosen. Ganz oben lag ein Kuvert. Er öffnete es und fand darin alte Zeitungsausschnitte.
Bei einer Kakaodose ließ sich der angerostete Deckel nicht mehr abnehmen. Erich versuchte, eine Zigarrenkiste zu öffnen, die zugeklebt war. Schließlich schaffte er es, den Deckel vorsichtig mit einer Spachtel zu bewegen.
Er setzte sich auf eine Sprosse der Leiter, genehmigte sich einen kräftigen Schluck aus der mitgebrachten Bierflasche und klappte langsam den Deckel der Zigarrenkiste auf. Er glaubte seinen Augen kaum zu trauen. In der Kiste lagen Armreifen, Ketten, Broschen und Ringe.
Viel verstand Erich, der stellvertretende Sparkassenfilialleiter, zwar nicht von Schmuck, doch er erkannte sofort, dass es sich hier um außergewöhnlich erlesenen Schmuck bester Handwerkskunst handeln musste.
Erich steckte alle Dosen und Kisten in einen Müllbeutel und fuhr damit gleich zu Ruth. Sie war gerade mitten in Umzugsvorbereitungen und verstaute Bücher in Kartons.
Als sie ihn kommen sah, sagte sie: „Bist du denn mit dem Streichen schon fertig? Dieses Tempo hätte ich dir mit deinen zwei linken Händen gar nicht zugetraut!“
Barsch antwortete er: „Ruth, setz dich erst mal, ich muss dir ganz dringend etwas zeigen.“ Kreidebleich im Gesicht zeigte er ihr den Inhalt des Müllbeutels. Aus den vergilbten Zeitungsartikeln ging hervor, dass es sich um Diebesgut handeln musste. In den Artikeln war von einem „Juwelier Apffel“ die Rede.
Erich sah im Telefonbuch nach, aber unter „Apffel“ waren nur zwei Personen eingetragen, kein Juweliergeschäft.
Ruth meinte: „Der Freund von Brigitte heißt mit Familiennamen auch ,Apffel‘. Soll ich sie mal anrufen?“
„Nein, auf keinen Fall“, schrie Erich aufgeregt, „sage niemandem etwas von diesem Fund.“
Nach einigen schlaflosen Nächten wandte sich Erich vertrauensvoll an seinen Rechtsanwalt. Dieser riet ihm, alles einem Auktionshaus zu übergeben und den kostbaren Schmuck versteigern zu lassen. Das sei völlig legal, weil alles längst verjährt sei, meinte der Anwalt.
Nach einem halben Jahr war der Schmuck versteigert und das Geld auf Erichs Konto überwiesen. Der Betrag war so hoch, dass die Kunzmanns nun schuldenfrei waren. Es war auch noch genügend Geld vorhanden, um die Wohnung stilgerecht einzurichten.
Erich saß zufrieden im Wohnzimmer auf der Couch, legte seine Beine auf den Tisch und fragte Ruth: „Was meinst du, sollen wir das viele Geld, das wir aus der Versteigerung noch übrig haben, für einen guten Zweck spenden?“
„Das finde ich sehr edel von dir“, erwiderte Ruth.
Erich sagte gönnerhaft: „Da kannst du mal sehen, was für einen anständigen Ehemann du hast. Wem wir das Geld spenden wollen, entscheiden wir nach unserem Einweihungsfest. Ich mache mir darüber inzwischen noch Gedanken.“
Das Fest rückte näher. Alle Freunde waren gekommen und bewunderten Wohnung und Einrichtung. Manch einer flüsterte unter vorgehaltener Hand dem anderen zu: „Die werden jetzt Schulden haben, dass es nur so kracht!“
Auch der Freund von Brigitte, ein gewisser Abraham Apffel, war erschienen. Bei der Begrüßung fiel ihm sofort die wunderschöne Brosche auf, die Ruth an ihrer Bluse trug.
„Ruth“, fragte er erstaunt, „wo hast du denn dieses außergewöhnlich schöne Stück her? Das muss sehr alt sein. Ich verstehe nämlich etwas von Schmuck. Ich habe mal Goldschmied gelernt, und meine Großeltern hatten ein bekanntes Juweliergeschäft in der Stadt.“
Erich bekam nicht mehr mit, was seine Frau Abraham Apffel daraufhin antwortete. Mit weichen Knien schlich er zur Hausbar, schenkte sich einen Cognac ein und trank ihn gierig aus.
Als die Gelegenheit günstig war und Erich sich nicht beobachtet fühlte, ging er zu seiner Frau und machte ihr die heftigsten Vorwürfe: „Du hast mir nicht gesagt, dass du etwas von dem Schmuck behalten hast.“
„Beruhige dich, Erich, lediglich eine Brosche, eines der schönsten Stücke, wollte ich als Andenken behalten.“
Im Laufe des Abends sprach Erich scheinheilig Abraham an: „Sag mal, Abi, ich habe gar nicht gewusst, dass deine Großeltern ein bekanntes Juweliergeschäft hatten.“
Abi erzählte: „Das ist eine lange Geschichte. Bereits vor dem zweiten Weltkrieg wurde das Geschäft bei Nacht und Nebel komplett ausgeraubt. Die Versicherung kam für den Schaden auf. Sie hat mehr gezahlt, als der Schmuck wert war. Die Großeltern haben sich sozusagen daran gesund gestoßen. Möglicherweise hat der Raub meinen Großeltern auch das Leben gerettet, denn sie verließen danach Deutschland und entgingen somit den Judenverfolgungen. Nur die Oma war lange traurig, denn sie hatte auch ihren ganzen privaten Schmuck verloren. Der Opa beruhigte die sehr religiöse Oma damals mit einem Bibelspruch. Der Apostel Paulus schrieb im ersten Brief, 2. Kapitel an seinen Schüler Timotheus, wie sich gottesfürchtige Frauen verhalten sollen, nämlich, dass sie sich in würdiger Haltung mit Schamhaftigkeit und Sittsamkeit schmücken sollen und nicht mit Haarflechten, Gold und Perlen oder kostbarer Kleidung.“ Abi lachte, erhob sein Glas und prostete Erich zu: „Hoffentlich ist der Dieb damals genauso glücklich geworden wie meine Großeltern. Trinken wir auf ihn bzw. auf seine Nachfahren.“
Erich fiel ein großer Stein vom Herzen.
Zwei Wochen nach dem Fest war bei den Kunzmanns wieder Ruhe eingekehrt.
Ruth drückte Erich die Brosche in die Hand und sagte: „Ich will sie nicht mehr. Verkaufe sie. Dann können wir mehr Geld für Bedürftige spenden.“
Sie blickte ihrem Mann über die Schulter. Er hatte ein Blatt Papier vor sich, auf dem stand: SOS-Kinderdörfer, Krebshilfe, Aidshilfe.
Erich fragte: „Wem sollen wir denn das Geld zukommen lassen?“
Ruth fragte zurück: „Was hältst du vom Gießkannenprinzip? Für jeden etwas.“
„Das ist gut“, freute sich Erich und versprach: „Noch in dieser Woche werde ich die Geldbeträge überweisen und auch einen Termin beim Notar machen. Dann setzen wir unser Testament auf. Alles ist nur geliehen. Wir geben alles und noch mehr zurück. Unser letztes Hemd wird keine Taschen haben.“

© by Hermann Bauer