Illustration: Franziska Kuo
Illustration: Franziska Kuo

Himmel und Hölle

Horst Mahler hatte soeben seinen 873. Mitarbeiter eingestellt. Er schenkte sich einen Cognac ein, schwenkte selbstherrlich das Glas, ging zum Fenster und blickte voller Stolz über sein riesiges Firmengelände.
Über 40 Jahre hatte er geschuftet wie ein Pferd, die Firma aufgebaut und sich nur selten einige Tage Urlaub pro Jahr gegönnt. Er war es gewohnt, mindestens 12 Stunden täglich zu arbeiten, oft auch am Wochenende. Sein größter Fehler war es, dass er es versäumt hatte, rechtzeitig einen Assistenten der Geschäftsleitung anzulernen. So musste Horst jeden Kleinkram selbst erledigen. Er machte sich unentbehrlich.
Andere Leute hätten sich in seiner Situation allmählich aus dem Geschäftsleben zurückgezogen und wären als Rentner zufrieden gewesen. Horst war unglücklich, trotz seiner vielen Immobilien, Aktien und wertvollen Sammlungen, die er besaß. Er traute keinem Menschen und war sehr misstrauisch. Immer hatte er das Gefühl, jeder wolle nur sein Geld haben und ihn übervorteilen und betrügen.
Horst grübelte in letzter Zeit viel. Ihm war klar, dass Matthias, sein Sohn mit den zwei linken Händen, nur darauf warten würde, um sein Imperium endlich übernehmen zu können. Doch Horst befürchtete, dass sein Sohn in kürzester Zeit die Firma herunterwirtschaften würde, denn von diesem Taugenichts und Versager, wie er ihn abschätzend nannte, hielt er nicht viel.
Nein, das Heft wollte Horst noch lange nicht aus der Hand geben. Er erinnerte sich an einen Bauern, der ihm einmal gesagt hatte: „Den Hof übergeben, das heißt, nicht mehr leben.“
Auf sein Alter angesprochen, meinte Horst immer spitzbübisch: „Politiker fangen auch erst mit 70 Jahren an, so richtig in Schwung zu kommen. Reife und Lebenserfahrung ist eben durch nichts zu ersetzen.“
Nach einem arbeitsreichen Tag ging Horst zur Entspannung vor dem Nachhausegehen noch durch den Stadtpark. Die Sonne war längst hinter den mächtigen Eichen verschwunden, das Laternenlicht schimmerte bläulich. Er setzte sich auf eine der vom Fremdenverkehrsamt aufgestellten Bänke und genoss die himmlische Ruhe, die die Natur ausstrahlte. Nur wenige Menschen hielten sich um diese Zeit noch im Park auf. Manche führten ihren Hund aus. Hin und wieder keuchte ein Jogger an ihm vorbei.
Horst Mahler beobachtete einen alten Asiaten, der im Park spazieren ging. Dieser blieb oft stehen und starrte minutenlang auf einen Baum. Dann bückte er sich, hob Blätter auf, betrachtete sie lange und ging langsam weiter.
Als er an ihm vorbeischlenderte, erinnerte sich Horst, dass er in seiner Mittagspause einen Bericht in der Zeitung gelesen hatte über einen der bekanntesten noch lebenden chinesischen Philosophen, der als Abt in einem buddhistischen Kloster abseits der Zivilisation auf einem Berg lebte, dort meditierte und jetzt durch Europa reiste, Vorträge über den Glauben hielt und seinen Zuhörern auch Lebenshilfen mit auf den Weg gab. Horst war sich sicher, dass der Mann, den er beobachtete, der Weise aus dem fernen Osten sein musste. Horst überlegte, ob er ihn ansprechen sollte. Er tat es, und es stellte sich heraus, dass es dieser Weise tatsächlich war.
Beide gingen nun gemeinsam durch den Park. Der Philosoph sprach: „In China gibt es keine vier Jahreszeiten, zumindest nicht in der gleichen Art und Weise wie in Europa. In China kennen wir keinen Herbst und keine braun und rötlich gefärbten Blätter. Die Pflanzen, Büsche und Bäume sind dort immer grün. Mir gefällt dieses langsame Absterben der Natur im Herbst und das Wiederaufblühen im Frühling.“
Der Weise lächelte und sah Horst dabei an. Das war wie eine Aufforderung, auch etwas über sein Gegenüber zu erfahren. Horst sagte provozierend: „Ich glaube an nichts. An keine Menschen und an keinen Gott. Ich glaube nur an mich selbst. Das, was ich in meinem Leben geschaffen habe, war einzig und allein mein Werk. Keiner hat mir dabei geholfen, auch kein Gott. Ich bin davon überzeugt, dass Sie mir z.B. nicht den Himmel und die Hölle erklären können! Außerdem bin ich mir absolut sicher, dass es weder Himmel noch Hölle gibt. Was sagen Sie dazu?“
Der Weise sagte gar nichts. Er lächelte nur mild. Gelegentlich bückte er sich und hob einen Stein auf. Als er eine Hand voll Steine gesammelt hatte, entfernte sich der Chinese einige Schritte von Horst und begann, Stein für Stein auf ihn zu werfen. Manche verfehlten sein Ziel, die meisten Würfe trafen Horst aber.
Horst wurde wütend. Die Zornesröte stieg ihm ins Gesicht und er beschimpfte den Chinesen: „Sie Wahnsinniger, Sie Spinner, Sie sind ein Fall für den Psychiater und gehören ins Irrenhaus. Hören Sie gefälligst mit dem Unsinn auf!“ Am liebsten wollte er ihn schlagen.
Der Weise blieb jedoch gelassen und sprach: „Sehen Sie, das ist Ihre Hölle! Sie haben etwas böses in mir vermutet.“
Horst beruhigte sich nur allmählich wieder, entschuldigte sich wegen seiner Unbeherrschtheit und sagte zum Weisen: „Sie haben schon eine recht sonderbare und eigenwillige Art, um etwas zu erklären. Möglicherweise wollten Sie mir nur die Hölle in Ihrer speziellen Art verständlich machen. Doch sollten Sie auch wissen, dass mir diese Variante, etwas zu verdeutlichen, völlig fremd ist. Diese Methode können Sie in China anwenden, aber nicht hier.“
Der Abt freute sich und er meinte: „Sie haben eine rasche Auffassungsgabe. Es ist viel einprägsamer, wenn jemand in dieser Form versucht, wie ich es soeben bei Ihnen versucht habe, etwas Schwieriges zu erklären. Sehen Sie, diese Einsicht, die Sie jetzt gewonnen haben – das ist der Himmel. In gerade einmal zwei Minuten haben Sie jetzt Himmel und Hölle kennen gelernt. Glauben Sie jetzt daran?“
Der Chinese wartete eine Antwort von Horst nicht mehr ab und verabschiedete sich von ihm. Horst blieb mit offenem Mund fassungslos stehen. Ihm fehlten jetzt einfach die Worte. Er sah dem Chinesen noch lange nach, wie er sich immer wieder bückte, Blätter aufhob, sie betrachtete und sich an diesem Naturschauspiel – das für uns alle längst nichts besonderes mehr ist – erfreute.

© by Hermann Bauer