Illustration: Franziska Kuo
Illustration: Franziska Kuo

Ein hungriger Bär tanzt nicht

Während meiner Junggesellenzeit lebte ich in einem Wohnblock mit Einzimmerwohnungen. Häufig zogen dort Mieter ein und aus. Nur wenige Bewohner pflegten Kontakt zu ihren Nachbarn. Man sah sich mal kurz im Aufzug, wechselte die nötigsten Worte – meistens die üblichen Floskeln. Vielen war diese Anonymität ganz angenehm, nur wenige litten darunter, so schien es.
Eines Tages zog im selben Stockwerk, gegenüber meiner Wohnung, ein türkisches Ehepaar ein. Der Mann war ärmlich gekleidet, oft unrasiert, stank nach Knoblauch und hatte einen gewaltigen Schnurrbart. Mit seinem dunklen Teint, dem pechschwarzen Haar, dem ernsten Gesichtsausdruck und den glühenden Blicken machte er auf mich anfangs nicht unbedingt einen vertrauenswürdigen Eindruck. Seine Frau war recht unauffällig. Wenn sie mich sah, grüßte sie nur kurz, blickte zur Seite und zog ihren Schleier noch tiefer ins Gesicht, als er ohnehin schon war.
An einem Frühlingsabend läutete mein türkischer Nachbar an meiner Wohnungstür. Ich öffnete ihm, und er fragte mich: „Entschuldigen Sie, haben Sie eine Leiter, die Sie mir leihen könnten?“
„Aber natürlich“, antwortete ich.
Wir gingen gemeinsam in den Keller, und ich überreichte ihm die Metall-Leiter. Er bedankte sich und erzählte mir, dass er mit einem Arbeitskollegen die Wände weißeln und Regale montieren wolle und eine Leiter dafür wesentlich besser geeignet sei als seine wackligen Küchenstühle.
Knapp zwei Wochen vergingen. Mein türkischer Nachbar gab mir die Leiter zurück und sagte voller Stolz: „Wir sind mit unserer Arbeit fertig und sind sehr zufrieden, denn alles ist sehr schön geworden.“
„Das freut mich für Sie!“
„Dürfen wir Sie als kleines Dankeschön nächsten Mittwoch zu einem original türkischen Essen einladen? Meine Frau ist eine sehr gute Köchin, es wird Ihnen schmecken.“
„Aber gerne.“ Ich sagte zu und freute mich schon auf diesen Mittwoch. Damals achtete ich nicht besonders auf meine Gesundheit und ernährte mich einseitig. So war ich gespannt, da ich wusste, dass die türkische Küche neben der französischen und chinesischen zu den bedeutendsten Küchen der Welt zu zählen ist.
Als Gastgeschenk nahm ich am Mittwoch eine Flasche Raki mit. Als ich ihre Wohnung betrat, begrüßten mich die Gastgeber herzlich. Es duftete nach Gewürzen und Kräutern.
Die Frau verschwand gleich wieder in der Kochnische, während ich mit dem Mann am Esstisch Platz nahm. Er erzählte mir von einigen kleinen Pannen bei seiner Wohnungsrenovierung und wie er doch noch alles in den Griff bekommen hatte.
„Aber jetzt konzentrieren wir uns erst mal aufs Essen“, sagte er dann. „Ein türkisches Sprichwort heißt: ,Ein hungriger Bär tanzt nicht‘. Was möchten Sie zum Essen trinken? Bier, Wein, Wasser, Saft?“
„Gerne ein Bier“, antwortete ich.
Er schenkte mir das Bier ein.
„Oh, das ist meine Lieblingsmarke“, stellte ich mit Freude fest.
„Ich weiß, ich habe mir die Marke gemerkt, als Sie vor einigen Tagen einen Kasten im Bierabholmarkt kauften und wir uns danach im Aufzug trafen.“
Ich staunte über diese Aufmerksamkeit. Außerdem wunderte ich mich, wie locker er plötzlich war, als er meinte: „Wir sind alle noch sehr jung, nenn mich doch einfach Ibrahim, meine Frau heißt Neslihan.“
Schon kam Neslihan mit den Vorspeisen ins Zimmer und erklärte mir die Köstlichkeiten: „Das sind in dünne Scheiben geschnittene, in Mehl gewälzte und in Olivenöl gebratene Zucchini, mit Joghurt angemacht. Hier ein Gericht aus Bohnen, mit Zwiebeln, Knoblauch, Karotten und Olivenöl zubereitet. Diese kleinen, gefüllten Blätterteigröllchen nennt man Zigarrenbörek. Gefüllt sind sie mit Schafskäse und Petersilie. Dann haben wir noch Miesmuschelschalen, die mit Reis, Korinthen und Pinienkernen gefüllt sind. Und schließlich mit Hackfleisch, Reis und Zwiebeln gefüllte Weinblätter in Olivenöl und Wasser gedämpft.“
Ich war begeistert. Die verlockende Vielzahl war nicht nur schön fürs Auge, es schmeckte auch fantastisch.
Zum ersten Mal sah ich Neslihan unverschleiert. Sie war wunderschön, hatte große, dunkle, ausdrucksvolle Augen, sinnlich volle rote Lippen und eine makellose, gepflegte Haut. Ihr pechschwarzes, schon fast metallisch blau schimmerndes Haar fiel ihr leicht gewellt bis zur Schulter. Ich roch ihr süßliches Parfüm, das etwas zu schwer war. Sie trug ein langes dunkles Kleid und filigrane Riemchensandaletten. Ihre Finger- und Fußnägel waren rosa lackiert. Ich war mir nicht sicher, ob ich mich ins Fettnäpfchen setzen würde, aber ich musste es einfach loswerden – ich lächelte Neslihan an und sagte: „Neslihan, es ist das erste Mal, dass ich dich ohne Schleier sehe. Ich habe nicht gewusst, dass du so eine Schönheit bist!“
Neslihan schwieg lange, dann sagte sie mit ihrer zarten und zugleich rauchigen Stimme: „Zu Hause, beim Kochen und Putzen, trage ich natürlich keinen Schleier. Es ist auch nicht so, dass ich mich in Deutschland nicht anpassen wollte oder könnte, es ist einfach Gewohnheit. Warum sollte ich mit dieser Gewohnheit brechen, es stört doch niemand – oder doch? Ich verstehe nicht, dass viele Leute einen Schleier verurteilen und belächeln, wenn Türken ihn tragen. Manche Deutsche knien aber vor dem Altar in den Kirchen nieder, beten die Mutter Gottes an, und die wird meistens auch verschleiert dargestellt.“
Sie stand energisch auf, trug unsere leer gegessenen Teller in die Spüle und bereitete den Hauptgang vor.
Ich wandte mich an Ibrahim und fragte: „Habe ich Neslihan jetzt beleidigt? Das war nicht meine Absicht.“
Ibrahim winkte ab: „Aber nein. Es sind nur immer wieder die gleichen Fragen, die wir hören. Du musst wissen, wir sind gläubige Moslems. Wir leben ganz streng nach dem Koran. Ich hatte damals einen Krach mit meinem Vater, der dagegen war, dass wir nach Deutschland ziehen, weil hier – so meinte er – ein schlechtes Pflaster sei.“
„Wieso ein schlechtes Pflaster?“, wollte ich wissen.
Ibrahim lächelte gequält und berichtete: „In der Türkei kann man über Deutschland viel Negatives in der Zeitung lesen, zum Beispiel die immer schlimmer werdende Kriminalität, Alkoholismus, Rauschgiftprobleme schon bei Kindern, Aidstote, Pornographie, das Randalieren der Fußballfans, das Umschwenken von Fremdenfeindlichkeit in Fremdenhass usw. Außerdem kann man den Glauben hier schlecht ausüben, da es nirgends Moscheen gibt.“
Ich bedauerte, dass das so sei, meinte aber, dass gewisse Zeitungen doch sehr übertrieben und nicht immer die Wahrheit schrieben und dass man von Minderheiten nicht auf die Gesamtbevölkerung schließen dürfe.
Neslihan brachte jetzt den Hauptgang: Cöp sis, zusammen mit Zwiebeln und Tomaten am Spieß geröstete Lammstückchen mit Reis und verschiedenen Gemüsearten. Auch dieses Gericht schmeckte vorzüglich.
Neslihan kam auf den Glauben zu sprechen, und wir entdeckten viele Gemeinsamkeiten zwischen Bibel und Koran. Da die Bibel auch für Moslems ein heiliges Buch ist, war ich erstaunt, wie gut meine Gastgeber über das Christentum Bescheid wussten, während ich nicht so ganz bibelfest war. Interessant war für mich die Auslegung des Korans. Alkohol darf nicht getrunken werden, während Raki augenzwinkernd als Medizin toleriert wird.
Wir diskutierten bis tief in die Nacht. Nicht immer waren wir einer Meinung. Streitpunkte waren schulische Erziehung, Stellung der Frau in der Gesellschaft, Alkoholausschank und Kleidungsvorschriften.
Zum krönenden Abschluss reichte uns Neslihan Baklava, ein sehr süßes, rautenförmiges Gebäck aus mehreren Teigschichten, dazwischen eingestreute Mandeln, Pistazien und Nüsse, das Ganze mit Sirup übergossen. Für einen, der Süßes mag, sicherlich eine Köstlichkeit, für meinen Geschmack jedoch viel zu süß.
Es war jetzt schon sehr spät. Am nächsten Tag mussten wir alle wieder arbeiten, und ich wollte mich verabschieden. Aber sie ließen mich noch nicht gehen und zeigten mir ihr Fotoalbum. Erst dann verabschiedeten wir uns. Es war ein wunderschöner und aufschlussreicher Abend.
Wenn wir alle ausländische Freunde hätten, so könnten wir auch deren Probleme und Sorgen besser verstehen und hätten über diese Personengruppe, die unsere Kultur so enorm bereichert, eine wesentlich bessere Meinung, denn vieles sind nur Missverständnisse.
Mittlerweile sind viele Jahre vergangen. Neslihan und Ibrahim habe ich leider aus den Augen verloren. Längst bin ich in eine größere Wohnung umgezogen und ernähre mich nicht mehr einseitig. Ganz selten esse ich jedoch in einem türkischen Restaurant. Jeden Freitag besuche ich in der Nähe der Großmarkthalle mit meiner Frau einen Gemüse- und Obstmarkt, der den Ruf hat, kostengünstiger zu sein als die Konkurrenz. Mir gefällt das bunte Treiben dort. Ich fühle mich jedes Mal in den Orient versetzt, denn viele Türken kaufen dort ein. Gerade kinderreiche Familien erstehen häufig gleich steigenweise die Sonderangebote. Manche Frauen tragen Kopftücher oder sind verschleiert. Dann muss ich an Neslihan denken, der Schönheit mit dem Madonnengesicht.

© by Hermann Bauer