Der chinesische Kochtopf
Gerne höre ich auch heute noch auf den Rat des Ehepaares
Lindner. Ob die Probleme klein oder groß sind, die Lindners finden
immer einen Ausweg.
Sabine und Robert Lindner sind weit über 80 Jahre alt. Im Herzen aber
sind sie jung und modern geblieben. Herr Lindner hatte einen Beruf, in
dem er in der ganzen Welt herumkam. Er lebte viele Jahre mit seiner
Frau in Asien und Südamerika. Heute wohnen die beiden am Münchner
Stadtrand, direkt am Ufer des Starnberger Sees. Ein breiter Weg führt
zu der geräumigen Villa.
Ich sitze in einem schwarzen Ledersessel und betrachte das Kaminfeuer.
Kein Wohnzimmer strahlt eine solche Gemütlichkeit und Geborgenheit aus
wie dieses. Und ich war schon in vielen Wohnzimmern zu Gast.
Herr Lindner schenkt mir einen französischen Rotwein ein, wir stoßen
alle an, und Frau Lindner bemerkt: „Es wird höchste Zeit, dass wir mal
wieder gemeinsam einen netten Abend verbringen.“
Herr Lindner steht auf, was ihm große Mühe bereitet. Wie so viele
Senioren hat auch er Schwierigkeiten mit seinen Beinen. Sie tragen ihn
nicht mehr so gut.
Er geht zum Kamin, bückt sich und greift nach dem Korb, um Holz zu
holen. Ich springe auf, um ihm die Arbeit abzunehmen. Aber schon steht
Sabine Lindner neben mir und bittet uns, beide wieder Platz zu nehmen,
denn sie möchte Brennholz holen. Sie lässt sich nicht von mir helfen.
Als sie wieder das Zimmer betritt, geht ihr Mann auf sie zu, bedankt
sich bei ihr und drückt ihr ein Küsschen auf die Wange.
Ich bin gerührt. Es ist jedes Mal eine Freude für mich zu sehen, wie
glücklich und harmonisch die beiden immer noch sind – nach so vielen
Ehejahren.
Ich trinke einen Schluck Wein und frage sie: „Was ist eigentlich das
Geheimnis eurer glücklichen Ehe?“
Beide lächeln sich an, und Robert antwortet: „Ein Geheimnis gibt es da
sicher nicht. Die Ehe ist ein Bündnis, das gehegt und gepflegt werden
muss. Für manche ist die Ehe bzw. die Liebe lediglich ein Boogie-Woogie
der Hormone. Wenn solche Bindungen dann scheitern, muss man sich nicht
wundern.“
Sabine nickt und fährt fort: „Leider sind die meisten Menschen nicht
auf die Ehe vorbereitet. Robert und ich waren es auch nicht. Als wir
vor über 60 Jahren heirateten, hatten wir keine Ahnung. Wir wussten
nicht, wie man über seine Gefühle und Empfindungen spricht, wie man
Kritik einsteckt und Kritik übt, ohne den anderen gleich in Bausch und
Bogen zu verdammen. Oder wie man konstruktiv streitet und es schafft,
auch mal nachzugeben, Probleme auch mal eine Weile im Raum stehen zu
lassen, um einen günstigeren Augenblick zu ihrer Bewältigung
abzuwarten. Die ersten Jahre waren deshalb ziemlich schwierig, und der
Haussegen hing oft schief.“
Robert geht in die Küche. Er kramt aus dem hintersten Eck einen
Gegenstand hervor, bringt ihn mit ins Wohnzimmer, reicht ihn mir und
sagt: „Vielleicht gibt es doch ein Geheimnis unserer glücklichen Ehe –
dies hier hat eine Menge dazu beigetragen.“
Gespannt wartet er auf eine Reaktion von mir. Ich bin jedoch ratlos.
Was er mir in die Hand gedrückt hat, ist ein ganz gewöhnlicher
Kochtopf. Er ist nicht schön, die Farbe bereits an einigen Stellen
abgeblättert.
Sabine lacht und erzählt: „Dieser Topf ist schon sehr alt. Ich habe ihn
bei einem alten Chinesen in Shanghai gekauft. Dieser Mann sagte zu mir,
in Europa sei die Ehe mit einem heißen Topf zu vergleichen, den man auf
eine kalte Platte stelle und der nach und nach abkühle. In
fernöstlichen Ländern sei die Ehe ein kalter Topf, den man auf eine
heiße Platte stelle, so dass er sich langsam erwärme und immer heißer
werde. Diese Worte haben mir damals sehr gut gefallen, und bis heute
habe ich sie nicht vergessen.“
Robert unterbricht Sabine und stellt klar: „Nicht, dass unsere Ehe zu
Anfang ein kalter Topf gewesen wäre, ganz im Gegenteil. Aber ich
glaube, dass viel zu viele Menschen lediglich darauf hoffen, dass sich
die Anfangshitze möglichst lange hält, anstatt immer wieder kräftig
nachzuheizen. So verstehe ich die Ehe: die Freundschaft vertiefen, sich
immer näher kommen, sich immer besser verstehen lernen.“
Verträumt beobachte ich, wie die lodernden Flammen auf die gerade
aufgelegten Holzscheite übergreifen.
Sabine unterbricht die Stille: „Wir reden oft über Ehe und
Partnerschaft. Und wenn jemand Schwierigkeiten hat, so wie du,
versuchen wir ihm zu helfen.“ Dabei schaut sie mir tief in die Augen.
Robert legt seine Hand auf meine Schulter und sagt: „Ich finde es
wichtig, auch von anderen Menschen zu hören, welche Probleme sie haben.
Zu sehen, wie sie damit umgehen, das hilft auch uns weiter.“
Ich bin nicht in der Stimmung, jetzt über die Schulprobleme meiner
Kinder zu sprechen. Auch nicht über die voraussichtliche Kündigung
unserer Mietwohnung und schon gar nicht über meine momentane Ehekrise.
Da kann mir keiner helfen, denke ich mir, da muss man eben durch.
Also trinke ich mein Glas leer, stehe auf, gehe wie ein Tiger in seinem
Käfig nervös auf und ab und sage etwas vorwurfsvoll: „Das alles hört
sich recht einfach an, ist jedoch, wie alles Üben, eine schwierige
Arbeit. Es erfordert eine Menge Geduld.“ Ich bedanke mich für den
netten Abend und möchte mich verabschieden.
Frau Lindner reagiert überhaupt nicht und holt noch eine zweite Flasche
Rotwein aus der Küche.
Herr Lindner kommentiert trocken: „Setz dich.“
Seine Frau reicht mir die Flasche und den Korkenzieher.
Ich öffne die Flasche, gieße allen die Gläser nach und lasse mich in
den Sessel fallen. Ich fühle mich unausgeglichen und ausgelaugt vom
beruflichen und häuslichen Ärger.
Der Hausherr deutet mit seinem Zeigefinger auf die Vitrine mit den
vielen Schnitzereien, Statuen und Vasen. „Jedes Stück teilt eine
Geschichte mit“, sagt er. „In welches Land sollen wir dich heute
entführen? Nach Burma, Thailand, Indonesien, Indien, Guatemala,
Peru...?“
Er greift sich aus der Vitrine eine Holzfigur, hält sie in den Händen,
betrachtet sie immer wieder von allen Seiten, und dann erzählen beide
über Indonesien. Das klingt alles so echt, als ob ich damals selbst
dabei gewesen wäre.
Ich schließe meine Augen, und manchmal habe ich das Gefühl, als könnte
ich sogar die Gerüche der Speisen, von denen sie mir erzählen,
wahrnehmen. So vergesse ich für einige Stunden meine Sorgen. Wie machen
die beiden das nur? Die Erzählungen wirken auf mich wie eine Hypnose
und Seelenmassage zugleich. Nach etwa drei Stunden verabschiede ich
mich und trete den Heimweg an.
Zu Hause fragt mich meine Frau: „War es nett? Haben die beiden wieder
über ihre Auslandsabenteuer gesprochen?“
Ich nicke mit dem Kopf: „Ja, es war wieder sehr schön. Diesmal haben
sie mich mit nach Indonesien genommen. Aber sie haben mir auch eine
kleine Geschichte über einen chinesischen Kochtopf erzählt. Diese
Erzählung gefiel mir am besten. Willst du sie hören?“
Verständnislos schaut meine Frau mich an, wobei sie erwidert: „Heute
nicht mehr. Ich bin schon zu müde. Vielleicht morgen. Dann erzähle ich
dir auch eine Geschichte über Kochtöpfe, Bestecke, Teller, Tassen und
Gläser, die ich heute abgespült habe, während du dich amüsiert hast.
Ich gehe jetzt ins Bett. Gute Nacht.“
Ich bin noch nicht müde. Zu viele Gedanken wirbeln in meinem Kopf
herum. Dabei denke ich an einen kühlen Kochtopf und wünsche mir, er
möge sich noch einmal erwärmen und vielleicht sogar sehr heiß werden.
© by Hermann Bauer
Diese Geschichte wurde ins Vietnamesische übersetzt: Cái noi Trung Quoc