Illustration: Franziska Kuo
Illustration: Franziska Kuo

Lügen erlaubt?

Vor kurzem besuchte ich Sofie und Lothar. Wie immer ging es bei den Gesprächen ausschließlich um das verwöhnte und von den Eltern, vor allem aber den Groß-
eltern verhätschelte Kind. Sofie war ganz aus dem Häuschen, da sie festgestellt hatte, dass ihre elfjährige Tochter Sybille lügt. Sie fand das unmöglich, Lothar dagegen störte es nicht sonderlich. Er stopfte genüsslich seine Pfeife mit Tabak, stülpte sich seinen Kopfhörer über die Ohren und hörte im Radio die Fußball-Live-Berichte aus den Stadien.
Ich verzog mich mit Sofie in die Küche. Sie schenkte mir ein kühles Weißbier ein und bereitete das Abendessen vor.
„Stell dir vor“, sagte sie entrüstet, „ich habe Sybille schon mehrfach dabei ertappt, dass sie lügt. Vor einer Woche fragte ich sie, ob die Mathematik-Schulaufgabe schon von der Lehrerin korrigiert worden sei, und sie sagte nein, die Arbeit werde erst nächste Woche herausgegeben – was nicht stimmte. Sie hatte eine 5 geschrieben und wollte mir das entweder verheimlichen oder die Frist hinausschieben.“
Ich nahm einen kräftigen Schluck Bier, wischte mir den Schaum vom Mund und sagte: „Da müsste man die Ursachen bekämpfen. Vielleicht bist du etwas zu streng mit ihr. Könnte das der Grund dafür sein, dass sie lügt? Hättest du sie denn bestraft?“
„Begeistert bin ich natürlich nicht, wenn sie so schlechte Noten nach Hause bringt“, meinte Sofie in einem energischen Ton. Dann erzählte sie weiter: „Der Hammer kommt aber jetzt erst. Vor einiger Zeit feierten wir Geburtstag. Sybille durfte ausnahmsweise länger aufbleiben. Ich sagte ihr, sie müsse dann dafür am nächsten Tag bis zehn Uhr schlafen. Sie stand aber schon um sieben Uhr auf, was an sich nicht schlimm gewesen wäre. Lothar war im Garten und mähte den Rasen. Da hörte ich, wie Sybille das Fenster öffnete und zu ihm sagte: ,Papa, du sagst aber nicht der Mama, dass ich schon so früh aufgestanden bin‘. Und Lothar antwortete grinsend: ,Nein, ich sage nichts, ich schweige wie ein Grab‘. Lothar animierte sie sozusagen zum Lügen. Dann legte sich Sybille kurz vor zehn Uhr wieder ins Bett. Ich sollte annehmen, da ich auch erst um zehn Uhr aufstand, sie hätte ebenfalls bis zehn Uhr geschlafen.“ Sofie wartete nun auf meine Reaktion und sah mich erwartungsvoll an.
„Vielleicht wollte dir Sybille damit eine Freude machen, dass sie als Frühaufsteherin bis zehn Uhr im Bett bleibt“, meinte ich. „So schlimm finde ich das Ganze nicht. Für mich ist das eine harmlose Notlüge.“
Jetzt kam Lothar in die Küche, setzte sich zu mir an den Tisch und meldete: „Bayern hat 3:1 gewonnen.“
Sybille kam ebenfalls in die Küche, begrüßte mich, schnappte sich eine Banane und fragte: „Ist hier schon wieder dicke Luft?“ Dann verschwand sie wieder, um Klavier zu üben.
Sofie unterrichtete Lothar über das, was wir in seiner Abwesenheit gesprochen hatten. Er schüttelte den Kopf und meinte: „Ich sehe das wesentlich anders als Sofie. Es kann passieren, dass ein Kleinkind, wenn es zu spät zum Kindergarten kommt, als Entschuldigung sagt, ein grüner Elefant habe vor der Eingangstür gestanden und es nicht hineingelassen. Kinder in diesem Alter können zwischen Fantasie und Lüge noch nicht unterscheiden. Die glauben sogar später selbst diese Fantasien. Kinder, die den Kindergarten besuchen, merken sehr schnell, dass man gewisse Vorteile hat, wenn man lügt, dass sich die Balken biegen. Diese Erkenntnis setzt sich dann in der Schule fort, und im Berufsleben wird man heute täglich gezwungen zu lügen. Ein Außendienstler, der vom Kunden gefragt wird, ob das Produkt gut sei, kann dem Kunden doch nicht zum Produkt der Konkurrenz raten, sollte dies besser sein. Ich als Rechtsanwalt werde täglich mit Lügen konfrontiert. Es wird nirgends so viel gelogen wie in Zivilprozessen. Mir geht es da nicht anders. Wenn ich weiß, das Alibi meines Mandanten steht auf wackligen Beinen, dann werde ich zwar nicht unbedingt lügen, aber geschickt von der Sache ablenken, um den Brei herumreden und nicht näher darauf eingehen. Es gibt Fälle, da wurden Arbeitnehmer vom Arbeitgeber gefeuert, nur weil sie sich weigerten, vor Gericht einen falschen Eid zu schwören. Vor dem Arbeitsgericht hat der Arbeitnehmer so gut wie keine Chancen. Da steht dann Aussage gegen Aussage. So ist die momentane Rechtsprechung. Wer im Berufsleben Karriere machen will, darf nicht zimperlich sein, muss manchmal ein korruptes Schwein sein. Die Konkurrenz schläft nicht. Die Anständigen und Ehrlichen werden gerade in schlechten Zeiten die Dummen und Verlierer sein und auf der Strecke bleiben. Es gibt einen Bestseller von Ute Ehrhardt, der heißt ,Gute Mädchen kommen in den Himmel, böse überall hin‘. Dieser Titel bringt es auf den Punkt, was ich meine. Die Geschichte mit den angeblichen Lügen von Sybille finde ich harmlos, nicht der Rede wert, ja einfach lächerlich. Für mich ist das nicht mal eine Notlüge. Sie wollte nur ablenken. Man kann natürlich aus jeder Mücke einen Elefanten machen.“
Sofie meinte: „Vielleicht sollte man unterscheiden zwischen Berufsleben, wo es manchmal nötig ist zu lügen, und dem Privatleben. Man kann doch zumindest zu Hause ehrlich bleiben.“
Lothars Stimme wurde jetzt lauter: „Wie soll denn ein elfjähriges Mädchen das unterscheiden. Es ist damit einfach überfordert.“
In diesem Moment kam Sybille fröhlich zur Tür hereingestürmt. Ihre Mutter sagte: „Sybille, du kannst hier bleiben, wir essen gleich.“
Das Gespräch war damit, ohne dass wir ein von uns allen akzeptiertes Ergebnis erzielt hätten, schlagartig beendet, und wir widmeten uns wesentlich unverfänglicheren Themen.

© by Hermann Bauer