Illustration: Franziska Kuo
Illustration: Franziska Kuo

Zwei Luftballons

Im dunkelblauen Anzug stand der sonst stets leger gekleidete Harald während der vier Tage dauernden Apothekermesse in der Messehalle 5 am Stand seiner Firma. Seine Aufgabe war es, Computersysteme an die Pharmazeuten zu verhökern. Der Stand war gut besucht, und Harald erklärte den Interessenten die Vor- und Nachteile einer modularen Datenkasse und warum man die Computeranlage wieder mal aufrüsten sollte. Neue Verträge wurden massenweise abgeschlossen, der Umsatz konnte sich sehen lassen.
Aber nicht nur für eine exzellente Beratung war Harald zuständig, er musste auch nebenbei Werbegeschenke verteilen, Prospekte und Kataloge in die Verkaufsständer nachfüllen oder einem Journalisten Auskunft über die diesjährigen Produktneuheiten geben. Selbst zur Mittagszeit war der Stand voller Kunden. Repräsentanten von Fachzeitschriften fragten, warum die Firma in Zukunft nicht häufiger Anzeigenkampagnen schalten wolle.
Zwischendurch nervten ihn unzufriedene Kunden, die an den Geräten und vor allem an der Software einiges zu bemängeln hatten. Er hatte keine Zeit, um eine Kleinigkeit zu essen. Seinen Kollegen ging es ebenso.
Harald war völlig ausgepumpt, als er am ersten Tag gegen 18 Uhr das Messegelände verließ. Mit dem Auto musste er noch eine gute Stunde fahren. Sein Magen knurrte und Harald schob sich gierig einige Schokoriegel in den Mund.
Die Freude war groß, als er zu Hause seine Frau Petra in die Arme schloss. Die Kinder Jonas und Jenny fragten erwartungsvoll: „Papa, hast du uns etwas von der Messe mitgebracht?“
„Nein“, antwortete er, „das habe ich nicht, denn auf so einer Pharma-Messe gibt es ja nur Medikamente, und so etwas wollt ihr doch nicht.“ Enttäuscht gingen die Kinder in ihr Zimmer, um zu spielen.
Petra wärmte das Essen auf und sagte zu ihrem Mann: „Ein paar Luftballons gab es doch sicher auf der Messe. Außerdem werden dort Proben von Kosmetika, Salben, Cremes, Zahnpasta, Vitamintabletten und Hustenbonbons verteilt. An uns denkst du gar nicht.“
Beleidigt verzog sich Harald ins Wohnzimmer, machte es sich in seinem Lieblingssessel bequem, genoss die Musikberieselung aus der Stereoanlage und las den Wirtschaftsteil der Zeitung.
Am nächsten Tag schoben sich die gleichen Menschenmassen durch die Messegänge wie tags zuvor. Trotzdem verließ er eine Stunde vor dem Schließen der Hallen seinen Stand. Er wollte noch Messestände und Prospektmaterial der Konkurrenz begutachten. Natürlich dachte er auch an seine Frau und die Kinder. Er hatte schon zwei Plastiktüten voller Werbegeschenke und Warenproben eingesammelt.
Da kam ihm ein Herr mit einem wunderschönen Luftballon entgegen. Die eine Seite war silbern mit einem bunten Werbeaufdruck. Die Rückseite schmückte ein lustiges, farbiges Kindergesicht.
Harald fragte den Mann, wo es diese Luftballons gebe.
„In Halle 14“, antwortete dieser im Vorbeigehen.
Harald sah auf die Uhr. Er musste sich beeilen. Er nahm sich zwei Luftballons mit und steuerte den Ausgang an.
Diesmal war die Stimmung zu Hause wesentlich besser.
„Der Papa ist der Beste“, meinten die Kinder, als sie ihren Luftballon in Empfang nehmen durften. Auch Petra war begeistert und schmierte sich gleich eine Regenerationscreme ins Gesicht.
Drei Wochen später kam die Oma zu Besuch und wurde, wie immer, beim Spielen von ihren Enkelkindern geärgert. Die zwei Luftballons hatten mittlerweile Gas verloren und sahen schon ziemlich verrunzelt aus.
Jenny betrachtete erst ihren Luftballon, dann das Gesicht der Oma und meinte: „Du hast genauso viele Falten wie der Luftballon.“
Da sagte die Oma: „Wir werden eure beiden Luftballons wieder aufblasen, dann sehen sie wieder wie neu aus.“
Das war eine gute Idee, und Jenny und Jonas waren begeistert.
Jonas meinte anschließend: „So, Oma, und jetzt blasen wir dich auf, dann siehst du auch wieder wie neu aus!“

© by Hermann Bauer