Illustration: Franziska Kuo
Illustration: Franziska Kuo

Du wirst sehr reich werden

Wolfgang betrachtete mit Freude, wie seine beiden Kinder begeistert Kettenkarussell fuhren und an der Schiffschaukel mit schallendem Lachen ihren Spaß hatten. Seine Frau wollte mit den Kleinen das Kasperltheater und vielleicht auch noch andere Attraktionen besuchen. Da Wolfgang Volksfeste nicht so sehr liebte, verabschiedete er sich bereits frühzeitig von seiner Familie. Er war froh, dass er sich ausklinken konnte.
Trotzdem genoss er den Duft von frisch gebrannten Mandeln. Die gut gelaunten und ausgelassenen Menschen, die ihm begegneten, stimmten ihn fröhlich. Er blieb vor einer Geisterbahn stehen und bewunderte die fantasievollen Styropor-Monster, die in Verbindung mit einer grellen Beleuchtung und einer Furcht einflößenden Musik durchaus zum Gruseln waren. Er lachte über die Vampire, Teufel, Außerirdischen und Gespenster. Wolfgang schlenderte an einem Flohzirkus vorbei. Er überlegte, ob er die nächste Vorstellung besuchen sollte, denn Kunststücke von Flöhen hatte er noch nie gesehen. Er ging jedoch weiter. In der Ferne leuchtete die Neonschrift einer bekannten Brauerei. Im Zelt waren noch viele Plätze frei. Er nahm auf einer Holzbank Platz, um sich bei einem frisch gezapften Bier etwas auszuruhen. Eine Blaskapelle spielte Lieder, die er seit Jahren nicht mehr gehört hatte. Obwohl er eine ganz andere Musikrichtung liebte, gefiel ihm das Repertoire der Musiker und die Stimmung.
Als er das Zelt nach einer halben Stunde wieder verließ, setzte bereits die Dämmerung ein. In allen Farben leuchteten die Buden im Schein der Scheinwerfer und Glühbirnen. Der Himmel war durch die vielen Lichtquellen dunkelrot gefärbt. Das sich langsam drehende Riesenrad sah im Lichterglanz gigantisch aus. Eigentlich wollte Wolfgang jetzt mit den öffentlichen Verkehrsmitteln heimfahren. Doch da erblickte er ein winziges, reizvolles Zelt. Er blieb stehen. Es drang ein süßlich-würziger Duft von Räucherstäbchen aus dem Zelt. Auf einem Plakat stand: „Handlesen – Cassandra, die bekannte Wahrsagerin aus dem Orient – 15 Minuten für schlappe 20 Euro.“
Eine Frau mit schwarzen, schulterlangen Haaren kam aus dem Zelt und sprach ihn an: „Meine Wahrsagungen treffen zu 99% zu! Soll ich dir deine Zukunft deuten?“
Wolfgang lachte: „An so einen Blödsinn glaube ich nicht. Ich weiß selbst, was für mich gut ist, da brauche ich keine Märchenerzähler und Dummschwätzer.“
Die Frau schaute erstaunt und sagte mit ihrer dunklen und vibrierenden Stimme: „Das alles ist absolut seriös und wissenschaftlich fundiert. Ich habe den bedeutendsten Persönlichkeiten der Welt aus der Hand gelesen. Vielen konnte ich helfen. Stell’ dich nicht so an – setz’ dich auf diesen Stuhl.“ Sie deutete mit ihrem knochigen Zeigefinger und den viel zu langen Fingernägeln auf eine unbequeme Sitzgelegenheit. „Wenn du nicht zufrieden bist, brauchst du mir kein Honorar zahlen. Ist das ein Angebot?“ Dabei lächelte die Frau vielsagend und geheimnisvoll.
Der sparsame Wolfgang zog eine Augenbraue hoch und wiederholte die Worte der Wahrsagerin: „Kein Honorar?“ Neugierig war Wolfgang natürlich schon. Er betrat das Zelt und setzte sich auf den Stuhl. Zwei Scheinwerfer mit blauen Glühbirnen verzauberten alle Gegenstände in unnatürliche Farben. Unzählige Kerzen flackerten.
Wolfgang betrachtete das gepuderte und faltige Gesicht von Cassandra. Aus ihrem Mund blitzten Goldkronen. An jedem Finger trug sie einen Ring. Ihr aufdringliches Parfüm mischte sich mit dem Duft der Räucherstäbchen. Sie hatte ein kimonoähnliches Kleid an, das sehr bunt war. Cassandra nahm die rechte Hand von Wolfgang und bog seine Finger leicht nach hinten. Dann drehte sie seine Hand. Dadurch fiel der Schatten immer wieder anders. Sie schaute Wolfgang tief in die Augen, als ob sie ihn hypnotisieren und durchleuchten wollte.
Leise sprach sie zu ihm: „Von deinen Brüdern und Schwestern hast du nichts zu erwarten.“
Wolfgang schmunzelte und gestand: „Ich habe doch gar keine Geschwister.“
„Genau das wollte ich ja sagen – dass du dir als Einzelkind keinen Rat von deinen Geschwistern holen kannst. Du musst also selbst die richtigen Entscheidungen fällen. Das fällt dir nicht schwer. Du bist sehr intelligent. Einen großen Fehler hast du, handwerklich bist du sehr unbeholfen. Für jede Kleinigkeit, ob am Auto oder in der Wohnung, brauchst du Handwerker. Du bist sehr wohlhabend, aber noch nicht reich. Ich sehe ganz deutlich in deinen Handlinien, dass du sehr reich werden wirst. Die hohe berufliche Position, die du jetzt schon hast, reicht dir nicht. Du strebst nach höherem – bald wirst du dein Ziel erreicht haben, eher als du es dir jetzt erträumst. Was du unbedingt weitermachen solltest, das sind deine sportlichen Aktivitäten. Dadurch bleibst du fit, bist gerüstet für den enormen Arbeitsaufwand, der vor dir liegt. Mit deinem Gewicht hast du auch Probleme. Eine ausgewogene Ernährung wird dafür sorgen, dass du gesund bleibst. Aber da unterstützt dich auch ganz gut deine Frau.“ Cassandra lehnte sich etwas zurück, schaute Wolfgang an und erwartete eine Reaktion von ihm.
Wolfgang kratzte sich am Kinn und sagte: „Ja, bisher kann ich nur alles bestätigen.“
Cassandra schaute jetzt nicht mehr auf Wolfgangs Hände und erzählte weiter: „Die Gesundheit deiner Kinder ist nicht so stabil. Obwohl sie in der Schule gute Leistungen bringen, bist du nicht zufrieden mit ihnen. Du darfst sie nicht überfordern, sonst werden sie krank. Sei mal ehrlich, du warst in der Schule auch nicht der beste, hast du das schon vergessen?“ Sie nahm Wolfgangs Hand wieder und zeigte ihm die Lebenslinie: „Die Linie ist ungewöhnlich lang. Hier ist eine Einkerbung, das bedeutet, dass du mit 70 bis 75 Jahren eine schwere Krankheit bekommen wirst, eine Benachteiligung wirst du dann bis zu deinem Lebensende haben. Du wirst auf alle Fälle über 90 Jahre alt werden. Auch sehe ich in deiner Hand genau drei Frauen, die in deinem Leben noch eine Rolle spielen werden. Du hast einen Hang zum Fremdgehen. Wenn du in einigen Jahren ein riesiges Vermögen zusätzlich haben wirst, bist du besonders gefährdet.“
Cassandra schaute auf ihre Armbanduhr und meinte: „Eine Viertelstunde ist jetzt fast um. Wenn du noch mehr wissen willst und ich dir Lebenshilfen auf den Weg geben soll, dann kostet das jetzt extra und um Voraus. Warst du bisher zufrieden mit meinen Voraussagen? Dann gib mir so viel Geld, wie es für dich wert war. Am besten machen wir aber weiter. Ich kann dir noch vieles mit auf den Weg geben, und du wirst sehen, dein Leben wird plötzlich einen ganz anderen Stellenwert einnehmen und einen völlig neuen Sinn geben. So eine Chance bekommst du so schnell nicht wieder.“
Wolfgang bedankte sich für die Beratung, drückte ihr einen 20-Euro-Schein in die Hand, wünschte ihr noch viele Kunden und verabschiedete sich. Als er das Zelt verließ, wartete bereits eine ältere Frau, die sich ebenfalls aus der Hand lesen lassen wollte. Wolfgang betrachtete nochmal das Plakat vor Cassandras Zelt, las auch das Kleingedruckte und wunderte sich, in wie vielen Städten der Welt die Frau, die sich Cassandra nannte, angeblich schon wirkte.
Als er schon weiter gehen wollte, hörte er, wie Cassandra zu der Frau sagte: „Von deinen Brüdern und Schwestern hast du nichts zu erwarten…“
Wolfgang saß im Bus und fuhr nach Hause. Während der Fahrt dachte er sich: „Das Konzept der Wahrsagerin war eigentlich recht einfach. Zuerst sagte sie Sachen, die jeder mit nur etwas Menschenkenntnis sofort sieht. Mit meinen gepflegten Händen kann ich natürlich kein Handwerker sein und mit meinem Sportabzeichen am Sakko und dem Ehering am Finger sind auch Rückschlüsse möglich. Als ich ihr die Richtigkeit ihrer Prognosen bestätigt hatte, konnte sie gewagtere Prophezeiungen wagen – und selbst da hätte sie sich wieder rausreden können und dem Sinn eine Wende geben können, denn ihre erste Feststellung, dass man von seinen Brüdern und Schwestern nichts zu erwarten hat, stimmt eigentlich immer.“
Die 20 Euro taten Wolfgang nicht Leid. Ihm hatten diese Allerweltstheorien jedenfalls mehr gebracht als beispielsweise einige Autoscooterfahrten.

© by Hermann Bauer