Illustration: Franziska Kuo
Illustration: Franziska Kuo

Ein Schritt rückwärts

Gerd Kastenmüller hatte ein Problem: Der erfolgreiche Schriftsteller wurde mit seinem neuesten Werk nicht fertig. Bereits drei Jahre plagte er sich mit einer schwierigen Story herum. War es eine Konzentrationsschwäche oder einfach nur Ungeduld, oder war er bereits verbraucht und hatte keine Fantasien und Ideen mehr? Er wusste es nicht.
Gerd bewohnte für fünf Monate im Zillertal eine Hütte, und hoffte, in der Abgeschiedenheit der Alpen sein Buch fertig schreiben zu können. Doch auch hier waren die Ablenkungen zu groß. Oft saß er abends im etwa hundert Meter entfernten Bauernhof mit den Bauern in der Stube. Dort wurde noch die gute alte Hausmusik gespielt. Andreas, der Jungbauer, der halbtags im Tal in der Molkerei arbeitete, war ein meisterhafter Zither- und Gitarrenspieler. Die Stärke von Franz-Josef war das Hackbrett und der Gesang. Die textfeste Maria sorgte dafür, dass genügend selbst gebrannter Obstler am Tisch stand. Die Abende wurden meistens sehr lang und Gerd wunderte sich, wie die Bauern es schafften, am nächsten Tag wieder so früh aufstehen zu können. Er selbst schlief oft bis Mittag. Was Gerds Arbeit auch bremste, war das Fernsehgerät, das er in seiner Hütte hatte. Nach drei oder vier Krimis oder Psychothrillern, die er sich hintereinander ansah, wurde es schon mal drei Uhr in der Frühe.
Als Gerd wieder zurückkehrte in seine Großstadtvilla, hatte er gerade mal fünfzig Manuskriptseiten geschrieben. Dafür war die Zeit erholsam und er lernte viele nette und natürliche Menschen kennen.
Jetzt galt es aber in die Hände zu spucken. Sein Verleger riet ihm: „Flieg doch nach Asien, und miete auf dem Land ein Haus. Da werden dich weder Radio noch Fernsehsendungen oder Zeitungen ablenken. Die neuen Eindrücke werden dich beflügeln. Eine Adresse kann ich dir geben.“
Das klang gut. Gerd besorgte sich ein Flugticket nach Hongkong, packte seinen Koffer und die Reise konnte beginnen. Von Hongkong aus reiste er mit dem Schiff und dem Bus weiter. Dann war er am Ziel: Die Insel Hainan. Er setzte sich in ein Taxi, zeigte dem chinesischen Chauffeur einen Zettel mit der Adresse und lies sich zu seinem gemieteten Haus auf einen Berghang fahren. Das Haus war nicht abgeschlossen und ganz aus Holz. Die Einrichtung bestand nur aus einem Tisch und drei Stühlen. Immerhin war elektrisches Licht da, aber keine Toilette und kein fließendes Wasser. Am Boden lag eine Strohmatte, eine Decke und ein Moskitonetz. Ein Fahrrad lehnte an der hinteren Hauswand. Mit dem Rad waren es zehn Minuten zum nächsten Dorf. Dort konnte er Speisen und Getränke einkaufen. Am besten gefiel Gerd der Balkon. Er war schmal und sehr lang. Er stellte den Tisch und einen Stuhl auf den Balkon. „Hier werde ich gut schreiben können“, machte er sich selbst Mut. Vom Balkon aus hatte er einen wunderschönen Blick auf mehrere Reisfelder, umgeben von mächtigen Gebirgszügen. Er sah weit und breit keinen Menschen, hörte keine störenden Motorengeräusche – er hatte absolute Ruhe.
Wie ein Besessener schrieb Gerd Tag für Tag. Keiner störte ihn. Er trank nie Alkohol und hatte somit stets einen klaren Kopf. Nach einigen Monaten war er dann endlich am Ziel: Er war fertig mit dem Buch. Jetzt musste Gerd nur noch die Korrekturphase bewältigen. Er strich ganze Passagen, änderte die Reihenfolge und fügte noch wichtige Sätze ein. Gerd schätzte, in zwei bis drei Wochen alles beendet zu haben.
Gerd saß auf dem Balkon und hörte zum ersten Mal seit seinem Aufenthalt Stimmen. Er stand auf und sah, wie junge Frauen auf einem der Felder Reispflänzchen in den Boden steckten. Dabei redeten und kicherten sie und stimmten Volkslieder an, die sehr melodiös, traurig und exotisch klangen. Gerd beobachtete die Frauen, wie sie Reihe für Reihe des Reisfeldes bearbeiteten. Ihm fiel auf, mit welcher Eleganz und Harmonie die Frauen, die knöcheltief im Wasser stehen mussten, die schwere Arbeit in permanent gebückter Körperhaltung verrichteten.
Zur Mittagszeit kam ein Motorradfahrer, der den Frauen Speisen und Getränke brachte. Der Mann breitete auf einer Böschung unter einem schattigen Baum eine Decke aus und stellte das Mitgebrachte darauf. Die Frauen setzten sich im Kreis um das Essen. Als der Mann sah, dass Gerd ihn beobachtete, winkte er ihm, er solle doch den Abhang hinunterkommen und mitessen. Gerd ging den kleinen Berg hinab und der Mann stellte die jungen Frauen, die auch beim Essen ihren Strohhut aufbehielten, vor: Lilan, Meli, Peling, Ulan, Ming, Lingyü, Ying und Anping. Der Mann hieß Daming. Gerd nahm im Kreis Platz. Es gab Fische, Sojasprossen und Fleischrouladen. Dazu wurde heißer grüner Tee gereicht.
Daming war der Sohn eines Großbauern. Er hatte in Amerika studiert und freute sich, mit einem Ausländer diskutieren zu können.
Gerd erzählte in englisch, warum er das Haus für mehrere Monate gemietet hatte. Daming hörte aufmerksam zu und übersetzte von Zeit zu Zeit Gerds Gespräch ins chinesische, damit auch die Frauen alles verstehen konnten.
Dann erzählte Daming von der schweren Arbeit in der Landwirtschaft und dem Reisanbau. Nach dem Essen verabschiedeten sich die Frauen von Gerd und begaben sich wieder auf die Reisterrasse und pflanzten die Setzlinge. Daming zündete sich eine Zigarre an, blies genüsslich Ringe in die Luft und fragte Gerd: „Sind Sie schon drauf gekommen, welche Philosophie beim Reisanbau dahintersteckt?“
Gerd schmunzelte: „Eine Wissenschaft steckt dahinter?“
Daming fragte hintergründig: „Haben Sie schon mal in Ihrer Heimat Arbeiter, Angestellte oder Freiberufler gesehen, die während der Arbeit fröhlich sind, lachen, Spaß haben und Lieder singen? Das ist noch nicht alles, was ich sagen möchte. Betrachten Sie doch mal die Arbeitsweise der Frauen. Sie beginnen im obersten und vordersten Feld in der ersten Reihe, dann kommt die zweite Reihe dran, dann die dritte usw. Sie gehen rückwärts. Sind sie mit dem Feld fertig, wird die Terrasse pikiert, die darunter liegt. Sie arbeiten von oben nach unten, von vorne nach hinten und gehen immer einen Schritt rückwärts. Das Feld hat man jederzeit im Überblick. Ist das nicht ungewöhnlich? In Amerika und Europa arbeitet man immer nach vorne und nach oben, nie nach hinten oder unten. Die Devise heißt, immer noch mehr, höher, besser als andere sein. Die Leute leiden unter Termindruck, der Stress sägt an den Nerven. Die Menschen sind gereizt, unfreundlich und irgendwann kommen lebensbedrohende Krankheiten hinzu. Es ist doch heute nicht ungewöhnlich, dass jemand mit 50 Jahren schon einen Kreislaufkollaps, Herzinfarkt oder Schlaganfall bekommt. Das ist die hektische westliche Welt. Hier auf dem Reisfeld wird auch gute Arbeit geleistet. Obwohl die Arbeit hart ist, gibt es hier keine Intrigen, alle halten zusammen. Ich glaube, Glück und Erfolg kann man mit Gewalt und Zeitdruck nicht erzwingen. Man muss auch mal einen Schritt rückwärts gehen, um dauerhaft Erfolg zu haben. In der Ruhe liegt die Kraft!“ Daming schaute auf seine Armbanduhr und sagte: „Leider muss ich wieder weiter. Ich habe heute noch einiges zu tun. Sehen wir uns morgen wieder?“
„Gerne“, sagte Gerd und ging den Berg hoch zu seinem Haus. Er stand auf dem Balkon, schaute zu den Frauen und den Reisfeldern hinunter und sprach leise vor sich hin: „Da ist was Wahres dran und ich habe es auch kennen gelernt – in der Ruhe liegt die Kraft.“

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