Illustration: Franziska Kuo
Illustration: Franziska Kuo

Die weiße Taube Nr. 537

Der Wind pfiff gespenstisch durch den Kamin. Bäume bogen sich, abgebrochene Äste lagen auf der Wiese und Blätter wirbelten durch die Luft. Bunte Werbebeilagen eines Möbelgiganten und einzelne Zeitungsseiten flogen auf der wenig befahrenen Straße. Eine dunkelgraue Wolkenfront näherte sich bedrohlich der Kleinstadt. Laut Wetterprognose wäre in der Nacht mit starken Orkanböen und Hagel zu rechnen.
Seit einem halben Jahr war Walter Rentner. Er betrachtete mit gemischten Gefühlen das Naturschauspiel und sagte zu Verena, seiner Frau, die in der Wohnküche gerade ein Kreuzworträtsel löste: „Das Unwetter wird gleich da sein. Ich hole vorsichtshalber die Blumen vom Balkon rein.“
Seit Walter mehr Freizeit hatte, kümmerte er sich liebevoll um die Balkonpflanzen. Es machte ihm Spaß, die Blumen gedeihen und wachsen zu sehen.
Er öffnete die Balkontüre. Sein Blick fiel gleich auf den grün ausgelegten Boden. Dort lag eine weiße Taube und zitterte. Sie war durchnässt, hatte geschlossene Augen und den Nacken eingezogen. Es sah aus, als müsste sie sterben. Walter bückte sich und näherte sich behutsam der Taube. Walter sprach zur Taube: „Komm zu uns nach Hause. Nachdem du dich erholt hast und der Sturm vorbei ist, kannst du wieder davonfliegen.“
Walter legte vorsichtig die Taube in seine Hand. Ihr Gefieder fühlte sich nasskalt an. Dann entdeckte Walter einen metallenen Ring an dem dünnen Taubenbeinchen. Er trug die Taube in die Küche und setzte sich auf seine Eckbank. „Verena, hast du meine Lesebrille gesehen“, fragte er seine Frau.
„Die ist da, wo sie meistens ist: Neben der völlig zerrupften und zerfledderten Zeitung in der Toilette. Übrigens bin ich dagegen, dass du eine Taube in die Wohnung nimmst. Wer weiß, welche Krankheiten diese Ratte der Lüfte hat.“
Völlig unbeeindruckt von den Worten seiner Verena ging Walter mit der Taube in das Bad und trocknete sie erst einmal mit einem Handtuch ab. Die Taube war sehr schwach und sie rührte sich nicht. Dann setzte Walter seine Brille auf die Nase und sah sich den Ring genauer an. Er erkannte eine Gravur, die nur aus 3 Ziffern bestand: 537. Wer brachte diesen Ring an? War das eine Brieftaube? Während er darüber nachdachte, ging er in die Küche und reichte der Taube einige Körnchen und legte sie zum Ausruhen in die Küchenecke.
Der Sturm hatte mehrere Tage gedauert. Immer, wenn Walter die Taube beobachtete, wie sie die Körner aufpickte, dachte er: „Wenn ich nicht die Balkontüre geöffnet und meine Blumen reingeholt hätte, wäre diese Taube bestimmt ums Leben gekommen.“
Eine Woche hatte Walter die Taube bereits liebevoll gepflegt. Ihr Gefieder glänzte nun wieder. Sie hatte sich gut erholt und war wieder gesund.
Walter entschloss sich, die Taube nun wegfliegen zu lassen. Er öffnete die Türe, die Taube spazierte auf den Balkon, blieb dort lange am Boden stehen, drehte sich mehrmals um die eigene Achse und schaute überrascht.
Verena, die die Taube mittlerweile auch lieb gewonnen hatte, kam hinzu und sagte zur Taube: „Fliege dahin, wohin du gerne willst. Du kannst uns auch gerne jeder Zeit besuchen.“
Die Taube breitete ihre Flügel aus und flog über den Häuserblock. Seit diesem Tag kam die Taube fast jeden Tag. Wenn die Balkontür geöffnet war, flog sie in die Küche, spazierte einige Male um den Kreis, gurrte kurz und verschwand wieder. Manchmal stand sie neugierig am Küchenboden und sah zu, wie Verena das Essen zubereitete.
Die weiße Taube ist für das Ehepaar ein guter Freund geworden. Verena wollte ihr einen Namen geben und fragte Walter: „Wie wollen wir die Taube nennen?“
Walter überlegte lange und antwortete: „Es ist vielleicht ungewöhnlich und nicht sehr fantasievoll, aber ich würde sie so nennen, wie es auf dem Ring steht – 537.“
537 besuchte weiterhin fast täglich die beiden. Walter dachte sich oft, wenn er 537 wegfliegen sah, dass sie vielleicht eines Tages nicht mehr kommen würde. Und so war es auch. Von heute auf morgen besuchte die Taube Nr. 537 die beiden alten Leute, die sich bei jedem Besuch so gefreut hatten, nicht mehr. Walter war sehr traurig darüber. Verena nahm Walters Hand und tröstete ihn: „Zwischen Tieren und Menschen gibt es eine ganz feine und kleine Gemeinsamkeit, nur merken wir das nicht bzw. nur sensible Menschen haben die Gabe, so etwas zu sehen und zu spüren. Der Mensch ist in den meisten Fällen nicht feinfühlig genug, um die Botschaften und Gesten der Tiere zu deuten. Vielleicht wollte 537 uns mit ihrem Gurren etwas mitteilen? Vielleicht war sie alt – so wie wir – und wollte uns das sagen?“
Walter nickte mit dem Kopf und meinte: „Es stimmt schon, leider wissen wir über Tiere viel zu wenig Bescheid.“

© by Hermann Bauer