Illustration: Franziska Kuo
Illustration: Franziska Kuo

Taxifahrt in Taipei

Tagsüber habe ich einige Sehenswürdigkeiten von Taiwans Hauptstadt Taipei besichtigt. Inzwischen hat sich die Sonne hinter den bewaldeten Gebirgsketten verkrochen. Wegen der Kessellage und der Dunst- und Hitzeglocke ist es immer noch sehr heiß. Die hohe Temperatur ist kaum zu ertragen. Der Schweiß rinnt mir von der Stirn, mein T-Shirt ist durchgeschwitzt, meine Hände fühlen sich feucht und klebrig an. Die hohe Luftfeuchtigkeit bin ich nicht gewohnt.
Ich wohne als Gast bei einer chinesischen Familie in Yangmingshan, nördlich von Taipei. Yangmingshan liegt auf einer Bergkette in luftiger Anhöhe. Für mich ist das ein ideales Wohngebiet, da dort die Temperaturen einige Grade tiefer liegen als in der Ebene von Taipei.
Die öffentlichen Buslinien sind während der Hauptverkehrszeit völlig überlastet. Die Fahrtroute wird ausschließlich auf chinesisch angegeben. Außerdem sind das komplizierte System und die Routenführung nur etwas für Einheimische. Ich bin deshalb darauf angewiesen, mir ein Taxi zu nehmen.
Ich steuere einen Taxiplatz an. Es herrscht dort ein reges Treiben. Taxifahrer und Fahrgäste feilschen um Preise. Da die Straßenschilder in chinesischen Zeichen beschriftet sind, erschwert das die Orientierung für Neuankömmlinge außerordentlich.
Meine Gastfamilie hat mir deshalb die Wohnadresse und die Haltestelle in chinesischer Schrift auf einen Zettel geschrieben, den ich immer mitführe.
Ich halte einem Taxifahrer den Zettel unter die Nase und sage „Yangmingshan“. Schnell werden wir uns über den Preis einig, da ich nicht vorhabe, ewig lange mit ihm zu handeln. Anscheinend bin ich an einem Sammeltaxistand gelandet, denn der Taxifahrer fährt noch nicht, sondern schreit jetzt laut „Yangmingshan“. Jeden Passanten, der an seinem Taxi vorbeigeht, spricht er an.
Ich befinde mich in einem lauten Stimmenwirrwarr von ungefähr zwanzig Taxifahrern. Das dauert und dauert. An dem Platz fährt ein gelber Stadtbus nach dem anderen vorbei. Die Fahrgäste sind dicht gedrängt eingepfercht. Wenn ich nur wüsste, welchen Bus ich nehmen müsste. Ich habe das Gefühl, mit dem Bus würde die Fahrt viel schneller gehen.
Mittlerweile ist ein Student, der in Yangmingshan in der Nähe der Universität wohnt, daran interessiert, ebenfalls mit dem Taxi mitzufahren. Student und Taxifahrer schreien sich gegenseitig an – jeder hat Preisvorstellungen, die um Welten auseinander liegen. Wie den Handbewegungen, Gesten, Grimassen und der Mimik zu entnehmen ist, werden die Verhandlungen wohl noch einige Zeit in Anspruch nehmen.
Plötzlich schweigen beide und ich gehe davon aus, dass man sich einig geworden ist. Jetzt sind wir also zwei Gäste, die mit dem Taxi fahren möchten. Der Student sagt mir auf englisch, dass wir noch einen dritten Fahrgast brauchen.
Schon mindestens eine Viertelstunde warte ich hier auf dem Platz. Der Taxifahrer schreit sich die Lunge aus dem Hals. Ein Fahrer versucht lauter als der andere zu plärren.
Nachdem der Taxifahrer bestimmt hundertmal „Yangmingshan“ gerufen hat, schaut der Student nervös auf die Uhr und bedrängt den Fahrer, endlich zu fahren, auch wenn kein dritter Gast aufzutreiben sei. Und wieder hat es den Anschein, als würden die beiden streiten.
Völlig unerwartet gibt mir der Taxifahrer plötzlich mit der Hand ein Zeichen, ich solle ins Taxi einsteigen.
Ich sitze mit dem Studenten auf der Rückbank. Das Taxi ist nicht klimatisiert. Obwohl alle Fenster offen sind und es durchzieht, ist die Hitze nicht zu ertragen. Mein feuchtes T-Shirt klebt an dem billigen Plastikbezug der Sitze. Der Student und der Fahrer machen ein verärgertes Gesicht, als wäre ihnen eine Laus über die Leber gelaufen.
Ich betrachte den Gesichtsausdruck des Fahrers, dann den des Studenten, ohne jedoch eine Gefühlsregung erkennen zu können. Für mich ist es schwer, die beiden richtig einzuschätzen. Dazu fehlt mir ein großes Maß psychologischen Einfühlungsvermögens und eine gründliche Kenntnis der chinesischen Mentalität. Ich habe nämlich festgestellt, nur wenn man die Grundmuster der chinesischen Verhaltensweisen kennt, kann man gewisse Reaktionen und Denkschemen vorhersagen.
Wir fahren an vielen Kampferbäumen vorbei. Mir gefallen diese bis zu 50 Meter hohen Bäume mit ihren breiten Baumkronen. Bambuswälder, Zuckerrohr- und Bananenplantagen wechseln sich ab. Nach einer Weile haben wir den Stadtkern verlassen und fahren nun bergauf, vorbei an Fischteichen, Kirsch- und Zwetschgenbäumen, Palmen, riesigen Felsgärten, entzückenden Pavillons, tosenden Wasserfällen, heiß dampfenden Schwefel-Thermalquellen, die wie faule Eier stinken und Tausenden von Azaleensträuchern, Orchideen und Chrysanthemen, die hier wild wachsen. Faszinierend sind die in allen Größen und Farben vorkommenden Schmetterlinge.
Der Taxifahrer ist immer noch zurückhaltend, scheu, wortkarg und abweisend. Der Student bricht als erster sein Schweigen. Lächelnd deutet er auf das Armaturenbrett und übersetzt mir die chinesische Kalligraphie auf dem vergilbten Aufkleber mit den aufgebogenen Ecken: „Geld macht nicht glücklich. Aber es ist besser in einem Taxi zu weinen als im voll besetzten Bus.“ Er schaut mich schelmisch an und meint: „Dieser Spruch ist ausnahmsweise mal nicht von Konfuzius!“ Er fragt mich, aus welchem Land ich komme, wie lange ich bleibe, was ich schon alles besichtigt habe, und gibt mir Geheimtipps für Besichtigungen.
Der Fahrer verfolgt unser Gespräch und betrachtet uns dabei skeptisch im Rückspiegel, doch plötzlich plaudert auch er. Er wirkt ganz verändert, lacht sogar und erzählt, dass er drei Kinder habe, schon zwölf Jahre glücklich verheiratet sei und in welchem Stadtteil von Taipei er wohne und dass er heute schon neun Stunden mit dem Taxi gefahren sei und einen bekannten taiwanesischen Filmstar im Grand-Hotel abgeliefert habe. Er öffnet das Handschuhfach und zeigt dem Studenten das Foto mit dem Autogramm. Dann sprechen der Student und der Fahrer einige Minuten auf chinesisch miteinander.
Der Student erzählt mir anschließend, dass sie über das Essen gesprochen hätten und fragt mich: „Über was reden Chinesen beim Essen?“ Ich weiß es nicht. Der Student lacht und sagt: „Beim Essen reden Chinesen über das Essen.“ Dann fragt er mich: „Und über was reden Chinesen, wenn sie nicht essen?“ Auch das weiß ich nicht. Der Student meint: „Auch über das Essen.“
Dann erzählt der Fahrer wieder etwas auf chinesisch. Der Student übersetzt es mir: „In China wird alles gegessen, was fliegt, kriecht und Beine hat – außer Flugzeuge, Tische und Stühle!“
Die Fahrt ist sehr lustig. Alle sind jetzt locker und gut gelaunt.
Der Fahrer hält und deutet mir an, dass ich an meinem Ziel sei. Ich öffne die Geldbörse und halte ihm einen Geldschein hin. Doch der Fahrer will das Geld nicht annehmen.
Der Student sagt, er wolle mich zu dieser Fahrt einladen und ich brauchte nichts zu bezahlen.
Ich versuche alle Tricks, mein Geld doch noch los zu werden, aber ich habe keine Chance. Die lassen mich nicht zahlen. Ich bedanke mich, die beiden wünschen mir noch einen angenehmen Aufenthalt, und ich steige aus dem Auto. Ich versuche noch, durch das Fenster dem Fahrer den Geldschein in die Hemdtasche zu stecken, aber er wehrt meine Hand ab und fährt los. Beide winken mir noch zu.
Ich gehe zu dem Haus meiner Gastfamilie und denke mir: „Selbst wenn ich noch ein Leben von mehreren hundert Jahren vor mir hätte, würde ich die Chinesen sicherlich immer noch nicht verstehen.“

© by Hermann Bauer