Illustration: Franziska Kuo
Illustration: Franziska Kuo

Undank ist der Welt Lohn

Ich lag im Dreibettzimmer 216 des Kreiskrankenhauses. Nach überstandener Operation ging es mir, wie eine Schwester zu meiner Frau sagte, „den Umständen entsprechend gut.“ In einer Stunde würde Visite sein. Jeden Donnerstag, also heute, würde auch der Professor dabei sein, um sich seine Patienten anzusehen.
Ich zog meinen Morgenmantel an, fragte meine zwei Zimmerkollegen, die absolute Bettruhe einhalten mussten, ob ich ihnen etwas vom Zeitungskiosk mitbringen könnte, und verließ das Zimmer.
Draußen rannten Schwestern umher, Telefone läuteten, Betten wurden durch die Gänge geschoben. Putzpersonal, hinkende und Rollstuhl fahrende Patienten begegneten mir auf dem langen, breiten Flur. Im Aufzug zum Erdgeschoss fuhren Besucher mit, teils lachend, teils mit ernster Miene.
Ich kaufte einige Illustrierte und eine Zeitung. Dann trat ich mit langsamen Schritten den Rückweg zu meinem Zimmer an.
Unterwegs begegneten mir zwei Stationsärzte, die mich aufforderten: „Herr Bauer, gehen Sie bitte auf Ihr Zimmer, wir kommen gleich zur Visite.“
Ich legte mich wieder ins Bett und blätterte lustlos in den Zeitschriften.
Die Tür öffnete sich, und fünf Herren mit weißen Kitteln betraten das Zimmer. Die zwei Stationsärzte kannte ich schon. Der ältere Herr mit den grauen Schläfen und den buschigen Augenbrauen war demnach der Professor, die beiden jüngeren vermutlich Studenten.
Ein Stationsarzt berichtete kurz die Krankheitsgeschichte jedes Patienten und erwähnte die verabreichten Medikamente und medizinischen Maßnahmen.
Der Professor, der etwas mürrisch dreinschaute, sagte nur hin und wieder „ja“, „gut“ oder „sehr schön.“ Man merkte den Stationsärzten und Studenten an, welchen Respekt sie vor dem Professor hatten, der sicher ein ziemlicher Tyrann und eine unbequeme Person sein konnte.
Als er sich umdrehte, um das Zimmer zu verlassen, und – ohne die Patienten anzusehen – „also dann gute Besserung“ in seinen Bart murmelte, hatte ich das sichere Gefühl, den Professor irgendwoher zu kennen. Er musste mir schon mal begegnet sein. Ich rätselte herum, es fiel mir aber im Moment nicht ein.
Das Telefon an meinem Bett läutete. Ich hob den Hörer ab – mein Freund Axel war am Apparat. Ich erzählte ihm in groben Zügen von meiner Krankheit und er stellte zwischendurch immer wieder Fragen. Zum Schluss machten wir aus, nach meiner Genesung für ein paar Tage zur Erholung nach Südtirol zu fahren. Ich freute mich darauf und malte mir schon in Einzelheiten die Wanderungen aus, die wir dann gemeinsam unternehmen würden.
Später grübelte ich wieder darüber nach, woher ich den Professor kannte. Schließlich fragte ich meinen Bettnachbarn: „Wie heißt eigentlich der Professor?“
„Otto Hagedorn“, antwortete dieser.
Den Namen hatte ich noch nie gehört, doch plötzlich schoss es mir wie ein Blitz durch den Kopf: „Diesem Professor habe ich gemeinsam mit meinem Vater während einer Bergtour vor mindestens zwanzig Jahren das Leben gerettet.“
Otto Hagedorn war einen Abhang hinunter gestürzt, auf einen Felsen geprallt und schwer verletzt mit Arm- und Beinbrüchen reglos liegen geblieben. Nur durch Zufall hatten wir ihn entdeckt.
Wir trugen ihn dann etwa zwei Stunden lang zur nächsten Hütte. Das war eine schweißtreibende und fast unlösbare Aufgabe. Er verlor sehr viel Blut. In der Hütte verständigte der Hüttenwirt sofort den Notarzt. Zwischendurch schienten einige Männer notdürftig mit Holzlatten Arme und Beine des Verletzten.
Als der Hubschrauber eintraf und die Sanitäter Herrn Hagedorn auf die Bahre legten, vermuteten sie auch schwere innere Verletzungen. Sie äußerten den Verdacht auf Leberriss durch Rippenbrüche und auch eine Gehirnblutung hielten sie für sehr wahrscheinlich. Spätabends erkundigte sich der Hüttenwirt telefonisch im Krankenhaus, wie es dem Patienten gehe. Auf der Hütte waren alle erleichtert und froh, als die Schwester meinte, die Situation sei zwar nach wie vor sehr ernst, aber er komme mit größter Wahrscheinlichkeit durch.
Ich wartete ungeduldig auf den nächsten Donnerstag. Ein Patient in meinem Zimmer wurde entlassen. Er hatte es hinter sich gebracht, der Glückliche. Das gleiche wünschte ich mir bzw. allen Patienten im Hause auch.
Stunden später wurde Herr Wallner, ein älterer Herr in unser Zimmer eingeliefert. Er war leicht verwirrt, nur manchmal hatte er lichte Momente. Herr Wallner entpuppte sich als ziemlicher Quälgeist. Er schikanierte die Schwestern, jammerte nachts laut und hielt laute Selbstgespräche. An Schlafen war überhaupt nicht mehr zu denken.
Als es ihm besser ging, wollte er das Krankenhaus verlassen, wurde aber von den Schwestern wieder zurückgebracht.
Schließlich wurde er dann doch abgeholt. Wir zwei Leidensgenossen atmeten auf. Wir hatten vier Tage kein Auge zugetan. Andererseits tat uns Herr Wallner leid, da uns die Nachtschwester erzählte, dass er im Pflegeheim in einem Acht-Bett-Zimmer wohne.
Die Schwester sagte: „Wegen Personalmangel wurde der Neubau des Pflegeheims geschlossen. Alle sind dort überlastet, da kann die Pflege nicht optimal sein. Dort hat er sicher nicht viel zu lachen. Es ist ein Skandal, dass es heute noch Acht-Bett-Zimmer gibt.“
Endlich war Donnerstag. Professor Hagedorn kam zur Visite. Die gleiche Zeremonie wie vor einer Woche.
Nachdem die fünf Weißkittel vor meinem Bett gestanden hatten, meine Krankengeschichte heruntergebetet worden war und der Professor missgelaunt „gut“ gemurmelt hatte, sagte ich zu ihm: „Herr Professor, wir kennen uns übrigens, auch wenn Sie sich nicht mehr daran erinnern werden, denn das liegt schon gut zwanzig Jahre zurück.“
Der Professor hob seinen Kopf, schaute mich skeptisch an und meinte: „So?“
Ich erzählte weiter: „Ich habe Ihnen zusammen mit meinem Vater im Gebirge das Leben gerettet, sonst wären Sie verblutet.“
Zuerst lächelte der Professor arrogant, dann wurde er aber ernster. Ich merkte an seinem Gesichtsausdruck, dass er sich zwar nicht unbedingt an mich, aber an den Vorfall erinnern konnte. Möglicherweise war ihm das Gespräch vor versammelter Mannschaft peinlich, und er versprach mir: „Ich komme heute noch, nach der Visite, zu Ihnen, dann unterhalten wir uns ausführlich.“
Er kam aber nicht mehr.
Tags darauf wollte der Stationsarzt von mir hören, wie ich damals dem Professor das Leben rettete. Ich erzählte es ihm.
Es wunderte ihn nicht, dass der Professor nicht mit mir reden wollte. „Typisch“, meinte er, „das passt wieder mal zu ihm.“ Dann lächelte er mich vielsagend an, und seine Stimme wurde leiser, als er sagte: „Der Professor hat andere Dinge im Kopf, nämlich seine Vorträge im gesamten Bundesgebiet, wo er sich teilweise mit fremden Federn schmückt. Kleine Schicksale, auch wenn es wie hier seine eigenen sind, interessieren ihn überhaupt nicht. Ebenso nicht das Wohlbefinden der Patienten hier im Krankenhaus. Ein früherer Patient sagte mal zu mir, diese Visite komme ihm vor wie ein gesellschaftspolitisches Kabarett. Jeder, der nur ein bisschen feinfühlig sei, merke doch sofort, dass der Mann nicht bei der Sache sei und nur darauf warte, dass die Visite endlich ein Ende habe. Die wirkliche Arbeit machten andere. Sind Sie jetzt enttäuscht?“, fragte mich der Stationsarzt.
Ich antwortete ihm: „Nein, eine Enttäuschung ist das nicht. Ich erwarte auch keinen Dank. Ich weiß, dass man nicht zu viel von manchen Menschen erwarten darf. Ich finde es nur schade, dass er darüber nicht reden will.“
Der Arzt sinnierte lange, dann sagte er: „Undank ist der Welt Lohn“ und ging aus dem Zimmer.
Tage darauf durfte ich das Krankenhaus verlassen. Mit Axel verbrachte ich anschließend wunderschöne Tage im sonnigen Südtirol. Ich hatte das Gefühl, es hier ohne Ausnahme nur mit freundlichen und hilfsbereiten Menschen zu tun zu haben.

© by Hermann Bauer