Illustration: Franziska Kuo
Illustration: Franziska Kuo

Urgin schaut nach den Yaks

Im Laufschritt hetzte Armin, ein deutscher Reiseveranstalter von Trekkingtouren durch den Münchner Flughafen zur Ankunftshalle C. „Flug-Nummer QR 3 – Kathmandu/Nepal – gelandet“, stand auf der Anzeigetafel. In der Nähe des Förderbandes, auf dem Gepäckstücke in allen Größen vorbeitanzten, konnte er Urgin, einen 22jährigen Nepalesen, den er abholen wollte, sofort erkennen, denn er hatte eine gelbe Mönchskutte an.
Urgin hatte vier Jahre die Grundschule in Birdim, einem Gebirgs-Dorf in Nepal, nahe der tibetischen Grenze besucht, lernte dort nepalesisch, tibetisch und englisch. Danach hatte er einen deutschen Sponsor von den „Freunden Nepals“ gefunden, der ihm fünf Jahre lang einen Internataufenthalt im „Buddha Memorial Childrens Home“ finanziert hatte. Im Anschluss an diese Ausbildung hatte er drei Jahre die Yak-Herde seines Vaters gehütet. Danach, als 18jähriger war er in ein buddhistisches Kloster eingetreten. Sein Vater, ein Sherpa, hatte Armin, der Dorfentwicklungsprojekte in Birdim leitete, gebeten, den überdurchschnittlich begabten Urgin zu fördern, da er beabsichtigte, das Kloster wieder zu verlassen. Armin hatte die Idee, Urgin in Kathmandu ein Büro einzurichten. Armin würde ihm deutsche Trekking-Touristen schicken, die Urgin örtlich betreuen müsste und dafür zu sorgen hätte, dass die Nepal-Urlauber Fahrer, Köche, Träger und Bergführer bekämen. Dazu sollte Urgin das Reisebürogeschäft gründlich lernen. Armin hatte Urgin den Flug nach Deutschland bezahlt und wollte ihn ein halbes Jahr in seinem Reisebüro als Praktikant beschäftigen.
Urgin nahm seinen Rucksack und einen zusammengeschnürten Karton vom Förderband und schlenderte gemütlich zum Ausgang.
Die beiden begrüßten sich herzlich und Armin fragte Urgin: „Hat dir dein erster Flug gefallen?“ Urgin war begeistert und schwärmte von der herrlichen Sicht auf das Himalaya-Gebirge. Es war nicht leicht, sich einen Weg durch die Menschenmassen zu bahnen. Urgin wunderte sich: „Dieser Flughafen hier ist wesentlich größer als in Kathmandu.“ Als beide durch die Tiefgarage zu Armins Wagen gingen, betrachtete Urgin interessiert die parkenden Autos. „Die Deutschen haben alle neue Autos“, stellte Urgin fest. Armin lachte und meinte: „Neu sind die meisten Autos nicht. Die werden nur regelmäßig gewaschen und wenn ein Kotflügel verbeult ist, wechselt eine Autoreparaturwerkstatt das jeweilige Teil sofort aus.“
Während der Autofahrt zu Armins Haus am Stadtrand gab es für Urgin viel Neues zu entdecken. Armin bog nach ca. einstündiger Fahrt rechts in eine kleine Straße in einer typischen Wohngegend ein und sagte zu Urgin: „In diesem weißen Haus vor uns wirst du in den nächsten Monaten wohnen. Willkommen!“ Urgin strahlte über das ganze Gesicht. Beide schritten durch den Garten. Der Geruch vom frisch gemähten Rasen mischte sich mit dem Duft der vielen Rosen. Ein Eichhörnchen flüchtete auf den Stamm einer Fichte. Urgin deutete auf das Eichhörnchen und fragte: „Schmecken diese Tiere gut?“ „Eichhörnchen essen wir nicht. Du bekommst etwas Besseres zum Essen“, sagte Armin.
Jana, Armins Frau, zeigte Urgin das Haus. Sie erklärte, wie man die Armaturen im Bad bedient und wie die Wasserspülung in der Toilette funktioniert. Als Urgin das Gästezimmer betrat und das Bett sah, in dem er schlafen sollte, meine er: „Am liebsten möchte ich auf dem Holzboden schlafen, das bin ich so gewohnt. Ein Bett brauche ich nicht.“ „Wie du willst“, wunderte sich Jana. „Nach der anstrengenden Reise wirst du sicher müde sein. Du solltest dich jetzt ausruhen. Wir wecken dich dann morgen zum Frühstück.“ Bereits nach wenigen Minuten schlief Urgin am Boden ein.
Jana und Armin zogen sich ins Wohnzimmer zurück. Weil es so gut passte, legte Jana eine CD mit nepalesischer Musik auf, während Armin eine gekühlte Flasche Weißwein entkorkte. Armin sagte zu Jana: „Ich möchte, dass Urgin nicht nur die Touristikbranche kennen lernt. Er soll auch Grundkenntnisse in Solartechnik, Elektrizität, Erste-Hilfe-Maßnahmen und Hygiene mitbekommen. Nur so wird es möglich sein, seinem Dorf tatkräftig zu helfen. Der Spaß soll aber auch nicht zu kurz kommen. Wir werden ihn zu Einladungen und kulturellen Veranstaltungen mitnehmen, damit er sich mit der deutschen Lebensweise vertraut machen kann.“
Am nächsten Morgen beim Frühstück staunten Jana und Armin, wie gut Urgin mit Messer und Gabel umgehen konnte, denn die Nepalesen essen mit den Fingern der rechten Hand. Urgin sagte stolz: „Das habe ich bereits seit Wochen in Nepal geübt. Mit den Fingern geht das zwar schneller, aber wenn das hier üblich ist mit Besteck zu essen, dann mache ich das eben.“
Danach fuhren Jana und Urgin in die Stadt, um Urgin neu einzukleiden, denn er hatte nur seine Mönchskutte dabei. Es dauerte den ganzen Tag, um ihm von der Unterhose bis zum Pullover alles zu kaufen.
Den darauf folgenden Tag nahm sich Armin frei, um mit Urgin den Tierpark zu besuchen. Armin stellte sich an der Kasse an, um zwei Eintrittskarten zu kaufen. Als die beiden durch die Sperre gingen, sagte Urgin: „Schau mal, Armin, dieser Mann, der am Boden sitzt, verschenkt Geld.“ Er zeigte ihm die 10-Cent-Münze, die ihm der Mann gegeben hatte. Armin machte Urgin klar, dass es bei uns auch arme Menschen gibt und dieser Mann ein Bettler sei.
Urgin zeigte sich nicht sonderlich beeindruckt von Elefanten, Tiger, Zebras und Bären. Er stand vor dem Löwenkäfig und meinte nur trocken: „Na ja, das sind halt Löwen.“ Zu diesen Tieren, die Urgin noch nie sah, hatte er keinen Bezug. Das änderte sich schlagartig, als Urgin vor dem Yak-Gehege stand. Da glühten seine Augen vor Freude. Er ahmte ein gurgelndes Geräusch nach, einen Ton, den Jungtiere ausstoßen. Da kamen die Yaks zu Urgin. Urgin streichelte ihr zotteliges Fell und er sprach nepalesisch zu den Tieren.
In den nächsten Wochen lernte Urgin, wie man sich am Telefon meldet, wie Computer bedient werden, wie man Rechnungen und Angebote schreiben kann, wie man Recherchen im Internet macht und vieles vieles mehr. Urgin machte Fortschritte. Armin war zufrieden mit ihm.
Eines Morgens, als Armin am Frühstückstisch die Zeitung durchblätterte, sagte er: „Urgin, nächste Woche solltest du dein Mönchsgewand auspacken. Du wirst es brauchen.“ „Wieso denn das? Ich habe mich so an Jeans und T-Shirts gewöhnt“, wunderte sich Urgin. Armin setzte seine Lesebrille ab, sah Urgin an, um seine Reaktion sehen zu können und sagte: „Der Dalai Lama kommt nach München. Wir werden zusammen zur Pressekonferenz gehen. Gefällt dir das?“ „Urgin sprang auf, ging im Zimmer auf und ab und stammelte nervös: „Das ist ganz toll. Ich bin jetzt schon aufgeregt. Vorher muss ich allerdings noch einen Friseur aufsuchen, denn als Mönch muss ich ganz kurze Haare haben.“
Es war so weit. Beide fuhren ins beste Hotel der Stadt. Viele Pressefotografen und Kameramänner standen in der Rezeption bereits herum. Alle wurden nun in einen Konferenzraum gebeten. Kleine Snacks wurden gereicht. Ein Kellner servierte Sekt. Armin sprach mit einem Journalisten. Urgin wurde immer zappeliger, zog Armin am Ärmel und flüsterte ihm ins Ohr: „Armin, ich müsste mal nach den Yaks schauen.“ Armin verstand sofort, was er meinte und deutete auf eine Tür. Der Journalist lachte und fragte Armin: „Was, Yaks will der Mönch sehen?“ Armin klärte ihn auf: „Im Gebirgsdorf des Mönchs ist es üblich, in freier Natur seine Toilette zu verrichten. Bei dieser Gelegenheit schaut man dann meistens gleich nach den Yaks, ob die Tiere ruhig und versorgt sind. Möglicherweise war Urgin der Meinung, in feiner Gesellschaft sei es nicht üblich, das Wort ,Toilette‘ auszusprechen.“
Unruhe machte sich breit. Die Pressevertreter sahen kopfschüttelnd auf die Uhr, Handys waren im Großeinsatz. New-Age-Musik säuselte im Hintergrund. Es wurde verkündet, der Dalai Lama sei unterwegs, es könne allerdings noch ein wenig dauern...
Plötzlich tauchte lächelnd der Dalai Lama auf. Er hatte einen Vogel in der Hand, schritt zum Fenster, öffnete es einen Spalt und schenkte dem Vogel die Freiheit. Dann sagte der Dalai Lama: „Im Buddhismus kann man diese gute Tat mit Tieren – aber auch mit Menschen machen. Einem Geschöpf die Freiheit schenken, ist das größte Geschenk überhaupt.“
Nach dem Applaus der Pressevertreter wurde der Dalai Lama zu seinem Platz geführt. Armin sagte zu Urgin: „Geh zu ihm hin und überreiche ihm den Kata. Urgin wagte nicht, dem großen Dalai Lama in die Augen zu sehen. Ehrwürdig kroch er am Boden zu ihm hin und schlang ihm den weißen Begrüßungsschal um den Hals. Den Pressefotografen gefiel so eine Einlage natürlich und begeistert hielten sie diese Szene in einem Blitzlichtgewitter fest. Dem Dalai Lama war das sichtlich peinlich. In seiner lustigen Art überspielte er aber das Ganze und bat Urgin, sich neben ihn zu setzen. Was für eine Ehre muss das für Urgin gewesen sein, denn ein Mönch sitzt immer einige Stufen tiefer. Ein Mönch darf nie auf der selben Stufe wie der Dalai Lama sitzen. Der Dalai Lama fragte Urgin, wie er heiße. Dann sagte der Dalai Lama: „Urgin ist der Name von dem bekanntesten Lama in Tibet.“ Während der ganzen Pressekonferenz durfte Urgin neben dem Dalai Lama sitzen. Er genoss es. Armin machte viele Fotos. Für Urgin war das einer der wichtigsten Tage in seinem Leben...
Wie schnell ein halbes Jahr vergehen kann! Armin fuhr Urgin zum Flughafen. Armin hatte Urgin lieb gewonnen. Urgin war wie ein Sohn für ihn geworden. Nachdem das Gepäck eingecheckt war, schlenderten beide noch durch den Flughafen und steuerten ein Cafe an. Armin bestellte zwei Biere und beide prosteten sich zu. Armin sagte: „Urgin, jetzt sind wir Geschäftspartner. Ich fliege in einigen Wochen nach Kathmandu und dann helfe ich dir, dort ein Trekkingbüro einzurichten, das du dann leiten wirst. Den Grundstock hast du mitbekommen. In einigen Jahren wirst du ein erfolgreicher Geschäftsmann sein. Alles Gute Urgin, und auf eine gute Zusammenarbeit. Ich bin stolz auf dich!“
Der Flug nach Kathmandu wurde aufgerufen. Armin begleitete Urgin zur Passkontrolle. Schweren Herzens verabschiedeten sich die beiden Freunde. Als Urgin das Flugzeug betrat, bot ihm die Stewardess einige Zeitungen an. Urgin griff nach einer Wirtschaftszeitung und setzte sich an einen Fensterplatz.
Armin wartete noch so lange, bis das Flugzeug in den dunkelroten Abendhimmel eingetaucht war.

© by Hermann Bauer