Weihnachten in Zermatt
Die Weihnachtsfeiertage fielen dieses Jahr für Arbeitnehmer sehr günstig. Klaus Riedl zählte die Urlaubstage, die er in seiner Firma beantragen müsste, um insgesamt auf vierzehn Tage zu kommen. Gern hätte er in dieser Zeit einen Skiurlaub gemacht, zumal die Schneeverhältnisse ausgezeichnet waren, was an Weihnachten relativ selten ist. Aber wie sollte er das seiner Mutter beibringen?
Bisher hatten sie das Fest immer im Kreis der kompletten Familie gefeiert. Nun lebte sein Bruder seit einem Jahr als Entwicklungshelfer in Afrika und würde zum ersten Mal nicht kommen können. Der Vater war schon seit einigen Jahren tot. Da blieb nur er noch übrig.
Klaus griff nach dem Telefonhörer, wählte die Nummer seiner Mutter und erzählte ihr von seinem Plan.
Die Mutter meinte: „Wenn du unbedingt willst, kannst du gerne in der Weihnachtszeit Urlaub machen. Ich kann dich ja nicht anbinden. Ich lebe das ganze Jahr allein in diesem großen Haus, da spielt es keine Rolle, wenn du an Weihnachten nicht hier bist. Es ist zwar schade, dass du nicht kommen kannst, um gemeinsam zu feiern, aber zu zweit würde ohnehin die festliche Stimmung nicht aufkommen, die wir früher während deiner Kindheit immer hatten.“
Klaus bedankte sich für ihr Verständnis und traf erste Vorbereitungen für den Urlaub.
Als Urlaubsziel hatte er sich Zermatt ausgesucht. Endlich war es soweit. Das Auto war bereits voll gepackt. Am 21. Dezember fuhr Klaus frühmorgens mit seiner Frau und dem Sohn in die Schweiz. Am frühen Nachmittag erreichten sie den Ort Täsch. Da Zermatt autofrei ist, stellte Klaus sein Fahrzeug dort auf den bewachten Parkplatz. Mit der Brig-Visp-Zermatt-Bahn fuhren sie anschließend nach Zermatt, dem wohl bedeutendsten hochalpinen Zentrum der Welt.
Die Dämmerung setzte gerade ein, als sie aus dem Zug stiegen. Sie waren zum ersten Mal in Zermatt. Der Ort liegt unterhalb des majestätischen, in seiner Einmaligkeit faszinierenden, geheimnisvollen Matterhorns, das schon so vielen wegen seines unheimlichen Zaubers zum Schicksal wurde, und ist umgeben von einer gigantischen Bergkulisse mit zahlreichen Gipfeln über 4.000 Meter.
Die letzten Sonnenstrahlen färbten den Gipfel des Matterhorns dunkelrot. Ein herrlicher Anblick. Nicht nur die Riedls kamen ins Schwärmen.
Nachdem die Familie ihr Gepäck im Hotel verstaut hatte, machte sie noch einen kleinen Abendspaziergang. Ungewohnt und gleichzeitig schön war, dass es hier nur Pferdekutschen und Elektroautos gab. Die Luft war klar und kalt. Von Benzingestank keine Spur. Obwohl Metropole des Skisports mit Weltruf, hat sich Zermatt das Flair des urigen, gemütlichen Bergdorfes mit seinen typischen, sonnenverbrannten Walliser Häusern erhalten können.
Klaus kehrte mit seiner Familie noch in einem hübschen Restaurant ein, um eine Kleinigkeit zu speisen. Anschließend gingen die drei nach ihrer anstrengenden Autofahrt früh ins Bett, denn am morgigen Tag wollten sie ausgiebig Ski fahren und unbedingt ausgeschlafen und topfit sein.
Zwei Tage hatten sie sich im Skigebiet schon ausgetobt. Heute war der Heilige Abend. Dieser Tag schien auf den Pisten ein Tag wie jeder andere zu sein. Keine Spur von Weihnachtsstimmung. Sie saßen auf der sonnigen Terrasse eines Lokals mitten im Skigebiet. Nach dem Mittagessen wedelten die drei nach Zermatt hinab. Dort kauften Touristen noch rege in den Geschäften ein, die noch alle geöffnet hatten, und rannten mit Plastiktüten in den Händen umher.
Klaus hatte für 20 Uhr in einem noblen Restaurant einen Tisch reservieren lassen. „Aber bitte in Abendgarderobe“, hatte ihn der Oberkellner ermahnt.
Um 18 Uhr verließ die Familie Riedl das Hotel und bummelte noch durch den Ort. Leichter Schneefall setzte ein. Sie besuchten noch eine Kunstgalerie mit Originalen von Dali, Picasso und Miró.
Anschließend führte sie der Weg am örtlichen Friedhof vorbei. An vielen Gräbern brannte eine Kerze. Sie betrachteten die Grabsteine und schauten auf das eingemeißelte Alter der Toten. Meistens waren es Abgestürzte zwischen 20 und 30 Jahren, die die Tour auf das Matterhorn mit ihrem Leben bezahlen mussten. Es war romantisch und still auf dem Friedhof.
Die Familie bog in die Gasse ein, wo sich das Restaurant befand, in dem sie tafeln wollten. Der Schnee knirschte bei jedem Schritt.
Da entdeckte Klaus eine Telefonzelle. Er ging hinein und rief seine Mutter an, weil er sich Sorgen um sie machte. Ob sie wohl depressiv war am heutigen Tag, so allein in ihrem Haus?
Es dauerte nicht lange, da meldete sich die Mutter mit fröhlicher Stimme: „Stell dir vor“, schwärmte sie, „ich wollte es mir gerade in meinem Fernsehsessel bequem machen und mir einen Film ansehen, da schellte die Glocke. Draußen standen Abdul und Mustafa. Das sind die beiden Asylanten, die mir immer bei der Gartenarbeit helfen, den Rasen mähen und im Winter den Schnee schippen. Sie wünschten mir schöne Weihnachten und brachten mir eine Vorspeise und ein Gebäck aus ihrer Heimat mit. Ich bat sie ins Wohnzimmer, und da sitzen wir jetzt und feiern gemeinsam das Weihnachtsfest, obwohl die beiden Moslems sind, aber das macht ja nichts.“
Klaus wünschte seiner Mutter und den beiden Männern einen schönen Weihnachtsabend und war erleichtert, dass es ihr gut ging.
Die Familie Riedl betrat das Restaurant. Es war festlich gedeckt. In der Ecke stand ein geschmackvoll und mit Liebe geschmückter Weihnachtsbaum, der nicht überladen wirkte. Klaus bestellte eine gute Flasche Rotwein. Dann gingen die drei ans Salatbüfett und belegten ihre Teller mit den verschiedensten Salaten.
Als der Ober die Vorspeise servierte, erhoben die Riedls ihre Gläser, wünschten sich einen schönen Weihnachtsabend und lauschten dem Streichquartett, das Weihnachtslieder spielte.
© by Hermann Bauer