Weihnachten in der Berghütte
Weihnachten
stand vor der Tür. In der Großstadt regnete es seit Tagen. Der
herbeigesehnte Schneefall blieb wieder mal aus. Die vergangenen Wochen
waren wie jedes Jahr viel zu hektisch verlaufen und so freute ich mich
darauf, für einige Tage mit meiner Frau Ina und unserer 7jährigen
Tochter Gabi in die Alpen zu unserer Berghütte zu fahren.
Am 24.12.
stand ich früh auf, verstaute unser Gepäck im Kofferraum unseres Autos
und befestigte die Skier auf dem Dachträger. Nach dem Frühstück konnte
die Fahrt beginnen. Die Autobahn war vormittags noch nicht überlastet,
aber es goss in Strömen. Der beliebte Rundfunkmoderator, der für seine
lockeren Sprüche bekannt war, gab Tipps, wie man schlau um den Stau
fährt und plauderte mit einem Meteorologen, der krampfhaft versuchte,
ebenfalls witzig zu sein, was ihm jedoch nicht gelang. Er behauptete,
aus den Aufzeichnungen der letzten hundert Jahre gehe eindeutig hervor,
dass die Weihnachtsfeiertage meist schneefrei gewesen seien. Der Schnee
falle in der Regel – wenn überhaupt – erst im Januar. Die Vorstellung
in unseren Wirrköpfen von weißer Weihnacht sei eine reine Erfindung von
cleveren Public-Relations-Managern der Kitschpostkartenindustrie. Auch
eine Bauernregel hatte er für die Tage der Konjunkturbelebungsfeiern
bzw. Kindlein-Kitsch-Kommerz-Tage parat: „Ist es grün zur
Weihnachtsfeier, fällt der Schnee auf Ostereier.“
Gabi, die auf dem Rücksitz saß, meinte: „Papa, jetzt reicht es aber,
mach doch bitte das Radio aus, das Gequassel ist ja unerträglich!“
Sie hatte Recht. Auch mich störte es, dass die Massenmedien immer
wieder versuchen, den Menschen die Weihnachtsromantik zu nehmen.
Außerdem wollten wir uns vom Alltagsstress und dem damit verbundenen
akustischen Lärm lösen. Wir alle sehnten uns nach einer fröhlichen
Weihnacht voller Harmonie in unserer Hütte ohne fließendes
Wasser, Strom, Telefon, Zeitung, Radio und Fernsehen. So, wie man eben
vor zweihundert Jahren auch Weihnachten feierte – für manche sicher ein
unvorstellbarer Gedanke und vielleicht sogar ein Albtraum.
Nach
zwei Stunden Autofahrt waren wir fast am Ziel. Wir bogen in die
Forststraße ein, die erfreulicherweise geräumt war, und fuhren steiler
aufwärts. Der Regen war längst in Schnee übergegangen – es schneite
dicke Flocken.
„Wie wäre es jetzt mit einem Weihnachtslied?“, schlug Ina vor.
„Oh ja, eine gute Idee“, sagte Gabi, und wir sangen – da es so gut
passte – „Leise rieselt der Schnee, still und starr ruht der See.“
„Stopp, aufhören – das ist ja viel zu tief“, unterbrach Gabi.
Wir begannen noch einmal, diesmal etwas höher. Jetzt hatten wir die
richtige Tonart erwischt. Wir waren alle gut bei Stimme – oder war es
nur der Hall im Auto? Es klang jedenfalls herrlich!
Als wir die Hütte fast erreicht hatten, sahen wir, dass sie völlig
eingeschneit war. Die letzten hundert Meter konnten wir nicht mit dem
Auto fahren, denn die Hütte lag auf einem Hügel abseits der
Forststraße. Wir stiegen aus dem Wagen und stapften, bis zu den
Oberschenkeln im Schnee, hin. Der Schneeräumer lehnte neben der
Eingangstür. Ich schnappte ihn mir und schaufelte einen schmalen Tritt
frei. Die Fensterläden waren noch geschlossen. In der Hütte war es kalt
und ungemütlich.
Als erstes heizte ich den Kachelofen in der Stube, anschließend den
Küchenherd, während Ina und Gabi unser Gepäck aus dem Auto holten.
Eigenartig – bisher war es immer so gewesen, dass Anderl, der
pensionierte Jäger, der dreißig Minuten entfernt eine ehemalige
Almhütte bewohnte, vor unserem Eintreffen den Weg geräumt, den
Kachelofen geschürt, die Fensterläden geöffnet und durchgelüftet hatte.
Dann wartete er stets auf uns, zündete sich eine Kerze an, schenkte
sich ein Glas Rotwein ein und steckte sich seine geliebte Pfeife in den
Mund. Er rauchte nicht jedes Kraut. Er hatte eine ganz bestimmte Marke,
die er sich extra aus England schicken ließ.
Obwohl Ina und ich immer Nichtraucher waren, mochten wir den leicht
süßlichen, würzigen Duft seines Tabaks. Der Geruch fehlte mir jetzt
sehr. Meistens blieb Anderl dann den ganzen Tag, und wenn es spät
wurde, übernachtete er bei uns.
Er musste vor ein paar Tagen hier gewesen sein, denn hinter die Hütte
hatte er uns – wie jedes Jahr – eine herrliche Blautanne gelegt. Ich
trug die Tanne in die Stube. Nur langsam wurde es wärmer in der Hütte.
Das Holz knisterte im Ofen. In der Küche roch es nach Hagebuttentee,
aber es stellte sich noch keine Gemütlichkeit ein.
Ich starrte aus dem Fenster und machte mir um Anderl Sorgen. Er war
immer sehr zuverlässig. Wo mochte er jetzt nur sein? Plötzlich kam ein
Wind auf, und es schneite stärker.
Als Ina mich so untätig herumstehen sah, meinte sie: „Du könntest eigentlich Wasser holen!“
„Ja, das mache ich gleich“, antwortete ich fast ein wenig gereizt. Ich
nahm vier Dreißig-Liter-Kanister, schleppte sie zum Auto und fuhr damit
zu einem nahe gelegenen Bach, um sie mit Wasser zu füllen.
Als ich wieder zur Hütte kam, bereiteten Ina und Gabi gerade etwas zum
Essen vor. Ich stürmte in die Küche und fragte vorwurfsvoll: „Habt ihr
euch noch keine Gedanken gemacht, warum der Anderl noch nicht da ist?“
„Das ist schon sonderbar“, sagte Ina, und an ihrem Tonfall merkte ich, dass auch sie sich Sorgen machte.
Ich überlegte nicht lange, zog meine Skistiefel an, nahm meinen
Rucksack, schnallte meine Skier an und machte mich auf den Weg zum
Anderl. Ich wählte den kürzesten Weg in Schleichpfaden durch den Wald.
Der Wind pfiff erbärmlich kalt. Der Schnee kam waagerecht
dahergeflogen. Sonst herrschte vollkommene Stille.
Ich merkte, wie meine Wangen immer eisiger wurden. Meine Nase tropfte,
an meinen Wimpern hing Eis. Der Weg kam mir endlos vor.
Unglücklicherweise stürzte ich noch, meine Sicherheitsbindung ging auf,
und ich hatte Mühe, im Tiefschnee mit Schneeklumpen an der Schuhsohle
wieder in die Bindung zu kommen.
Plötzlich sah ich im Schnee Hasen- und Rehspuren. Wenigstens ein
Lichtblick. Ich hatte das gute Gefühl, nicht mutterseelenallein hier zu
sein.
Endlich hatte ich es geschafft, ich hatte Anderls Hütte erreicht. Ich
klopfte an die Tür, und da der Anderl seine Tür selten zusperrte, trat
ich gleich ein.
Das Feuer war ausgegangen. Keine Kerze, kein Gaslicht brannte. Auf dem
massiven Holztisch stand eine leere Rotweinflasche, das daneben
stehende Weinglas war noch halb voll.
„Anderl“, schrie ich. Kein Laut. Ich klopfte heftig an seine
Schlafzimmertür. Keine Antwort. Ich öffnete die Tür. Da sah ich Anderl,
die Augen geschlossen, den Mund weit geöffnet, regungslos im Bett
liegen. Ich packte ihn am Arm und schrie ihn an: „Anderl.“
Jetzt erst bewegte er seinen Kopf, erschrak, als er mich sah, und
fragte: „Was ist los? Wie spät ist es? Warum plärrst du denn wie ein
Jochgeier?“
Er sah schlecht aus. Seine Stimme klang anders als sonst. Auf seinem Nachttisch lagen mehrere Tablettenschachteln.
Anderl stand auf. Er schnaufte wie ein Walross, hielt sich mit der Hand
seine Stirn und sagte zu mir: „Hock dich erst mal hin, schenk dir einen
Obstler ein, ich bin gleich fertig.“
Ich ging zurück in die Stube, holte mir aus der Wandvitrine den Obstler
und ein Senfglas – das waren Anderls Schnapsgläser – und goss mir etwas
ein. Ich nippte daran und fühlte, wie mir der 60%ige Schnaps in den
Magen rann. Das tat gut nach dem Schreck.
Anderl setzte sich zu mir an den Tisch. Er schälte eine Orange und
erzählte: „Ich hatte in letzter Zeit fürchterliche Depressionen. Der
Arzt verschrieb mir viel zu starke Tabletten, und ich trank dummerweise
auch Wein dazu. Irgendwie muss mir das nicht gutgetan haben.“ Er teilte
die Orange, reichte mir die Hälfte und schob sich von seiner Stück für
Stück in den Mund. Erst als er die Orange gegessen hatte, sprach er
weiter: „Jetzt bin ich wieder gesund – wie ein junger Hund.“
Wir saßen schweigend am Tisch. Mir gingen viele Gedanken durch den
Kopf, dann fragte ich: „Anderl, meinst du, dass du mit den Skiern zu
uns fahren kannst?“
„Aber klar, mein ganzes Leben bin ich auf den Brettern gestanden. Ich
schaffe den Katzensprung schon, auch wenn ich nicht so ganz auf dem
Dampfer bin.“ Er lachte, zog seinen uralten Anorak an und blickte
umher, als ob er etwas suchte. „Ich bin die letzte Woche nicht ins Tal
gekommen. Heute ist doch Weihnachten. Ich habe überhaupt kein Geschenk
für euch.“
„Das ist doch egal. Weihnachten hat doch eine ganz andere Bedeutung.
Hauptsache, wir machen uns einen schönen, besinnlichen Abend. Ich
glaube, ein Tapetenwechsel wird dir in deiner momentanen Verfassung
ganz guttun.“
Anderl öffnete einige Schubladen, ging ins Schlafzimmer, und ich sah, dass er irgendetwas in seine Anoraktasche stopfte.
„Von mir aus können wir losfahren“, meinte er dann und schnallte sich seine Skier an.
Wir fuhren zu unserer Hütte. Der Schneefall hatte aufgehört. Der
Rückweg fiel mir jetzt wesentlich leichter. Nach unserer Ankunft gingen
Anderl und ich in die Stube. Anderl gab sich zwar große Mühe, seine
Niedergeschlagenheit zu verbergen, doch Ina und Gabi merkten sofort,
dass er in sich gekehrt war. Eigentlich war er nicht wiederzuerkennen.
Sonst war er eine Stimmungskanone, spielte Gitarre und Zither, sang
dazu und hatte immer den passenden Witz auf den Lippen...
Der Weihnachtsbaum war schön geschmückt mit Kugeln, Kerzen, Lametta und
alten Holzfiguren, die meine Großeltern schon an ihrem Weihnachtsbaum
hängen hatten. Es duftete nach Glühwein, und auf dem Tisch standen
Plätzchen und Lebkuchen. Vier Kerzen brannten an dem Adventskranz.
Gabi hatte das 24. Türchen ihres Adventskalenders geöffnet und zeigte uns das Motiv: die Krippe mit dem neugeborenen Kind.
Draußen wurde es dunkel. Ina zündete das Gaslicht an, und wir
beschlossen, zu Abend zu essen. Etwas früher als sonst. Es gab
geräucherte Forellen.
Gabi rutschte schon ungeduldig auf ihrem Stuhl hin und her. Sie konnte
die Bescherung kaum noch erwarten, obwohl es gar nicht spannend sein
konnte, denn sie hatte sich ausschließlich Bücher gewünscht. Bisher war
es allerdings immer so gewesen, dass sie noch irgendetwas dazu bekam.
Wir Erwachsenen hatten uns darauf geeinigt, uns nur symbolisch eine
nützliche Kleinigkeit zu schenken, denn wir lehnten den Konsumterror
entschieden ab.
Alle legten nach dem Essen ihre Geschenke unter den geschmückten Baum,
und wie jedes Jahr läutete bald darauf ein helles Glöckchen. Nun packte
jeder seine Geschenke aus.
Anderl holte etwas aus der Tasche seines Anoraks und drückte es Gabi in
die Hand. Ich konnte nicht genau erkennen, was es war, aber es schien
etwas aus Holz zu sein.
Gabi nahm das Geschenk in ihre Hand, schaute es an und sagte begeistert: „Oh, das ist ein Reh.“
„Genau, das ist es“, bestätigte Anderl. „Schön, dass du sofort erkannt
hast, dass es ein Reh darstellen soll. Ich habe es vor ungefähr fünfzig
Jahren geschnitzt. Ich wollte es damals meiner Freundin schenken, hatte
aber Bedenken, da ich meinte, es wäre nicht so perfekt geworden. So
behielt ich es. Leider habe ich nie mehr etwas geschnitzt. Es ist das
einzige Schnitzwerk von mir, und du sollst es jetzt haben.“
„Es ist wunderschön, Anderl, ich danke dir recht herzlich“, sagte Gabi.
„Das Reh wird einen besonders schönen Platz in meinem Zimmer bekommen.“
Die anderen Geschenke beachtete Gabi kaum. Sie hielt den ganzen Abend
ihr Reh in der Hand und schaute es mit leuchtenden Augen an.
Kommentarlos drückte ich Anderl die Gitarre in die Hand. Die A-Saite
fehlte. Wir sangen zu Anderls Gitarrenbegleitung die bekanntesten
Weihnachtslieder: „Leise rieselt der Schnee“, „Oh Tannenbaum“, „Es ist
ein Ros' entsprungen“, „Oh, du fröhliche“, „Kling, Glöckchen,
klingelingeling“, „Macht hoch die Tür“ und natürlich „Stille Nacht,
heilige Nacht.“ Auch mit A-Saite hätte Anderls Gitarrenspiel nur halb
so schön geklungen wie in den vergangenen Jahren. Trotzdem war die
Stimmung sehr feierlich.
Anschließend las ich noch „Die heilige Nacht“ von Ludwig Thoma vor. Bei
der Stelle „Kommt die heilige Nacht und der Wald ist aufg'wacht,
schau'n die Hasen und Reh', schau'n die Hirsch' übern Schnee“ blinzelte
Anderl Gabi zu. Gabi war so gerührt, dass sie Tränen in den Augen
hatte.
Als ich die Geschichte beendet hatte, war Gabi müde und ging mit ihrem
Reh in der Hand und stolz wie eine Jungkuh im Frühling ins Bett.
Wir Erwachsenen unterhielten uns noch bis spät in die Nacht bei
Glühwein und Gebäck. Für Anderls Gemütszustand war es sehr gut, unter
Freunden zu sein, die ihn wieder aufmunterten und ihm neuen Lebensmut
gaben.
Am ersten Weihnachtsfeiertag schien mir im Bett die Sonne ins Gesicht und weckte mich sanft. Ina schlief noch.
Gabi und Anderl waren schon in der Stube. Gabi bekam im Abstand von
jeweils einer halben Minute einen Lachkrampf nach dem anderen. Anderl
war scheinbar wieder in seiner Superform.
Leise stand ich auf, um Ina nicht zu wecken. Der Frühstückstisch war
schon gedeckt, das Feuer nachgeschürt, und Anderl hatte den Weg zur
Forststraße bereits geräumt.
Anderls Kaffee war wie immer viel zu stark. Anderl meinte: „Mich regt
nicht der starke, sondern der schwache Kaffee auf“ und lachte, dass
seine Zähne blitzten.
Nach einem kräftigen Frühstück gingen wir alle einige Stunden im
Neuschnee spazieren. Der Himmel war herrlich blau, und die Sonne
verzauberte mit ihrem hellen Glanz die ganze Natur. Es war wie im
Bilderbuch. Gabi hatte natürlich ihr Reh dabei, das sie von Zeit zu
Zeit ansah und auch mit ihm sprach.
Anschließend lud uns Anderl in seine Hütte ein. Er reichte uns
Schinken, Essiggurken, Silberzwiebeln und Knäckebrot. Dazu tranken wir
ein Fläschchen Rotwein.
Kurz bevor es dunkel wurde, verabschiedeten wir uns vom Anderl, denn er
wollte jetzt wieder allein sein und sich schonen. Er war ja noch nicht
ganz gesund.
Wir gingen zu unserer Hütte zurück.
Der zweite Weihnachtsfeiertag bestand hauptsächlich aus Skifahren in der näheren Umgebung.
Drei Monate vergingen. Mich erreichte die traurige Nachricht, dass
Anderl einsam in seiner Hütte gestorben war. Erst nach einer Woche
hatte man ihn gefunden. Manche behaupteten, er habe sich zu Tode
gesoffen. Andere deuteten vorsichtig an, dass es möglicherweise
Selbstmord gewesen sei, weil er seine Depressionen nicht mehr habe
ertragen können. Ich glaubte beide Versionen nicht, denn ich kannte den
lebensfrohen Anderl zu gut.
Es verstrichen zwanzig Jahre. Gabi wohnte nicht mehr bei uns. Sie war
inzwischen verheiratet und hatte zwei Kinder. Eines Tages besuchte ich
sie. Da öffnete sie einen Schrank, zeigte mir das geschnitzte Reh und
fragte mich: „Papa, kannst du dich noch erinnern, wer mir das Reh
geschenkt hat?“
„Aber natürlich, Gabi“, antwortete ich, „du hast es als Kind vom Anderl bekommen.“
Gabi meinte nachdenklich: „Ich werde den Anderl nie vergessen. Er war
ein guter Mensch. Solche Menschen gibt es heute gar nicht mehr. Solange
ich lebe, wird er in meiner Erinnerung weiterleben.“
Copyright by Hermann Bauer